04 - Mein ist die Rache
Dann schob er das nach vorn gefallene Haar zur Seite und bewegte vorsichtig den Arm, um den Grad der Leichenstarre zu prüfen. Doch er wich einen Schritt zurück, als er die Hohlnadel sah, die in ihrem Fleisch eingebettet war.
»Überdosis«, sagte Lynley. »Was hat sie genommen, Peter?«
Er ging wieder zu seinem Bruder. St. James blieb bei der Toten. Die Kanüle war leer, der Stempel heruntergedrückt, als hätte sie sich eine Substanz eingespritzt, die sie auf der Stelle getötet hatte. Es war schwer zu glauben. Er sah sich suchend um. Auf der Kiste neben dem Bett war nichts als ein leeres Glas mit einem angelaufenen Löffel darin und Resten eines weißen Pulvers am Rand. Er trat zurück, um den Boden zwischen Bett und Kiste sehen zu können. Und da sah er es, mit einem Schwall des Entsetzens.
Aus einem silbernen Fläschchen war weißes Pulver auf den Boden geronnen, zweifellos dieselbe Substanz, die Sasha Nifford getötet hatte. Sein Herz pochte laut. Das Zimmer schwankte. Er wollte es nicht glauben.
Das Fläschchen gehörte Sidney.
21
»Du mußt dich zusammennehmen, Peter«, sagte Lynley zu seinem Bruder. Er nahm ihn beim Arm und zog ihn auf die Füße. Peter klammerte sich schluchzend an ihn. »Was hat sie sich gespritzt?«
St. James starrte auf das Fläschchen. Er konnte Sidneys Stimme hören, so klar und deutlich, als stünde sie neben ihm im Zimmer. »Wir haben ihn dann heimgefahren«, hatte sie gesagt. »Er hat eine miese kleine Bude in Whitechapel.« Und später, weit belastender und unbestreitbar: »Sag' dem lieben Peter, wenn du ihn findest, daß ich einiges mit ihm zu besprechen habe. Ich kann es kaum erwarten, glaub' mir.«
Das Fläschchen blinkte im Lichtschein der Lampe. St. James kannte die Initialen. Er selbst hatte diese fein ziselierte Gravur in Auftrag gegeben. Er selbst hatte seiner Schwester das Fläschchen vor vier Jahren zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt.
»Du warst mein Lieblingsbruder. Dich hatte ich am liebsten.«
Er hatte keine Zeit. Er konnte sich jetzt keine moralischen Überlegungen leisten. Er konnte nur handeln, oder Sidney der Polizei preisgeben. Er entschied sich zu handeln, bückte sich, streckte den Arm aus.
»Gut. Du hast es gefunden«, sagte Lynley und trat zu ihm.
»Es sieht aus -« Er schien plötzlich St. James' Bewegungen zu begreifen. »Schütze ihn nicht meinetwegen«, sagte er ruhig.
»Das ist vorbei, St. James. Es war mir ernst mit dem, was ich im Auto sagte. Wenn es Heroin ist, kann ich Peter nur helfen, indem ich ihn die Konsequenzen tragen lasse. Ich rufe jetzt den Yard an.« Er ging aus dem Zimmer.
Die Hitze schoß wieder durch seinen Körper. Ohne auf Peter zu achten, der an der Wand lehnte und hinter vorgehaltenen Händen schluchzte, ging St. James mit steifen Schritten zum Fenster. Er griff hinter das Bettlaken, um es zu öffnen, und mußte feststellen, daß es vernagelt war. Die Luft war zum Ersticken.
Keine vierundzwanzig Stunden, dachte er. Das Fläschchen trug auf dem Boden das Zeichen des Silberschmieds. Die Polizei würde nicht lange brauchen, um das Geschäft in der Jermyn Street ausfindig zu machen, in dem er es gekauft hatte. Auf mehr als vierundzwanzig Stunden konnte er nicht hoffen.
Gedämpft hörte er Lynleys Stimme am Telefon im Treppenhaus und lauter Peters Weinen. Und noch lauter das stoßweise Keuchen seines eigenen Atems.
»Sie kommen.« Lynley schloß die Tür hinter sich. Er kam durch das Zimmer. »Alles in Ordnung, St. James?«
»Ja. Natürlich.« Zum Beweis trat er vom Fenster weg. Lynley hatte den einzigen Stuhl im Zimmer ans Fußende des Betts gestellt, mit der Lehne der Toten zugewandt.
»Sie kommen«, wiederholte er. Mit fester Hand führte er seinen Bruder zu dem Stuhl und drückte ihn darauf nieder.
»Unten, neben dem Sofa liegt ein Fläschchen mit irgendeinem Pulver darin, Peter. Wenn es gefunden wird, wird man dich wahrscheinlich verhaften. Wir haben nur ein paar Minuten, um miteinander zu sprechen.«
»Ich habe kein Fläschchen gesehen. Es gehört mir nicht.«
Peter wischte sich die Nase mit dem Arm ab.
»Jetzt erzähl mir erst mal, was eigentlich passiert ist. Wo bist du seit Samstag abend gewesen?«
Peter runzelte die Stirn. Er kniff die Augen zusammen, als blende ihn das Licht. »Nirgends.«
»Mach jetzt keine Spielchen mit mir.«
»Ich mach keine Spielchen. Ich sag dir -«
»Hör zu, diese Sache wirst du allein ausbaden. Kannst du mich soweit verstehen? Du mußt das ganz allein
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