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04 - Mein ist die Rache

04 - Mein ist die Rache

Titel: 04 - Mein ist die Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Whitechapel gegeben hatte. Trotzdem zitterte Peter am ganzen Leib.
    Als sie ihn vor dreißig Minuten in dem kleinen Raum zurückgelassen hatten - allein bis auf einen Posten vor der Tür -, hatte Peter kein Wort gesagt. Er hatte keine Frage gestellt, keine Erklärung abgegeben, keine Bitte vorgebracht. Er hatte nur dagestanden, die Hände auf der Lehne eines Stuhls, und hatte sich in dem unpersönlichen Raum umgesehen. Ein Tisch, vier Stühle, auf dem Boden stumpfes graues Linoleum, zwei Deckenlampen, von denen nur eine funktionierte, ein roter verbeulter Blechaschenbecher auf dem Tisch. Ehe er sich gesetzt hatte, hatte er Lynley flehentlich angesehen. Doch er hatte keinen Ton herausgebracht. Es war, als begriffe er endlich, daß er die Beziehung zu seinem Bruder irreparabel zerstört hatte.
    Lynley nickte dem Constable zu. Der sperrte die Tür auf und schloß sie wieder ab, sobald Lynley eingetreten war. Schrecklicher als sonst, da es diesmal seinen Bruder die Freiheit kostete, klang Lynley das Knirschen des Schlüssels in den Ohren, das immer etwas grausam Endgültiges hatte. Er hatte nicht erwartet, daß es ihm so nahegehen würde.
    Peter blickte auf, sah ihn und blickte wieder weg. Aber in seinem Gesicht war kein Trotz. Er schien eher wie betäubt.
    »Wir brauchen beide etwas zu essen«, sagte Lynley.
    Er setzte sich seinem Bruder gegenüber und stellte das Tablett auf den Tisch. Als Peter sich nicht rührte, wickelte Lynley eines der Brote aus. Das Knistern des Papiers klang wie das Knistern eines Holzscheits im Feuer. Es schien übermäßig laut.
    »Das Essen im Yard ist unerträglich. Entweder Sägespäne oder Matsch. Versuch das Pastramibrot. Das esse ich am liebsten.«
    Peter reagierte nicht. Lynley nahm einen Becher Tee.
    »Ich weiß nicht mehr, wieviel Zucker du nimmst. Ich habe mehrere Päckchen mitgebracht. Hier ist auch Milch.«
    Er rührte seinen eigenen Tee um und wickelte sein Brot aus.
    Peter hob den Kopf. »Ich habe keinen Hunger.«
    Seine Lippen waren aufgesprungen und wund. An einer Stelle hatten sie geblutet, und das Blut war zu einem dunklen Fleck verkrustet. Die Innenseiten seiner Nasenflügel waren voll kleiner Schrunden, und seine Augenlider waren schuppig.
    »Zuerst verliert man den Appetit«, sagte Peter. »Dann alles andere. Man merkt es nicht. Man bildet sich ein, es geht einem prima, besser denn je. Aber man kann nicht essen. Man kann nicht schlafen. Man arbeitet immer weniger und am Schluß gar nicht mehr. Man tut überhaupt nichts mehr außer koksen. Sex. Das macht man manchmal noch. Aber am Ende läßt man das auch. Koks ist ja viel besser.«
    Lynley legte sein Brot unberührt wieder in das Papier. Er war plötzlich nicht mehr hungrig. Und er wünschte sich, er würde auch nicht mehr fühlen. Er nahm den Becher mit dem Tee in beide Hände. Eine gedämpfte, dennoch tröstliche Wärme ging von dem Kunststoffgefäß aus. Ihm war kalt, aber es war eine Kälte, die von innen kam.
    »Willst du dir von mir helfen lassen?«
    Peter umfaßte mit der rechten Hand die linke. Er antwortete nicht.
    »Ich kann heute nichts mehr daran ändern, daß ich dir ein schlechter Bruder war, als du mich brauchtest«, sagte Lynley.
    »Ich kann dir nur das anbieten, was ich heute bin, auch wenn das vielleicht nicht viel ist.«
    Peter schien sich bei diesen Worten in sich zurückzuziehen. Als er endlich antwortete, bewegten sich seine Lippen kaum. Lynley mußte sich anstrengen, um ihn zu verstehen.
    »Ich wollte immer wie du sein.«
    »Wie ich? Warum?«
    »Du warst vollkommen. Du warst mein Vorbild. Als ich merkte, daß ich das nicht schaffte, hab' ich einfach aufgegeben. Wenn ich nicht du sein konnte, wollte ich lieber gar nichts sein.«
    Peters Worte hatten etwas beklemmend Endgültiges. Nicht nur hörten sie sich an wie das Ende eines Gesprächs, das kaum begonnen hatte, sondern auch wie das Ende jeder Möglichkeit, miteinander ins reine zu kommen. Lynley suchte nach etwas, das es ihm ermöglichen würde, die Barrikaden der vergangenen fünfzehn Jahre niederzureißen und den kleinen Jungen zu berühren, den er in Howenstow im Stich gelassen hatte. Aber er fand nichts.
    Er fühlte sich bleiern. Er griff in seine Jackentasche, holte Zigarettendose und Feuerzeug heraus und legte beides auf den Tisch. Die Dose hatte seinem Vater gehört. Das kunstvoll gravierte A auf dem Deckel war beinahe ausgelöscht von den Jahren, das Metall war zerkratzt und hatte Beulen, aber die Dose war ihm innig vertraut und teuer. Nie

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