04 - Mein ist die Rache
Deborah an und trat ein. Sie stand mit gerunzelter Stirn vor dem Spiegel und musterte sich kritisch.
»Tja«, sagte sie zweifelnd. »Ich weiß nicht recht.« Sie berührte die Perlenkette an ihrem Hals und befühlte wie prüfend den Stoff ihres Kleides. Seide, wie es schien, ein Ton zwischen Grau und Grün, der an das Meer an einem bewölkten Tag erinnerte. Haar und Haut bildeten einen lebhaften Kontrast dazu, und die Wirkung war aufregender, als sie sich bewußt zu sein schien.
»Umwerfend«, sagte St. James.
Sie lächelte seinem Spiegelbild zu. »Ich bin furchtbar nervös. Es hilft gar nichts, daß ich mir sage, daß es nur ein kleines Essen mit der Familie und ein paar guten Freunden ist. Ich sehe mich dauernd mit dem vielen Besteck herumfummeln und die falsche Gabel erwischen. Wieso ist das so verdammt wichtig?«
»Ja, das ist eben der schlimmste Alptraum der feinen Gesellschaft. Mit welcher Gabel esse ich die Krabben? Alle anderen Probleme erscheinen belanglos im Vergleich dazu.«
»Was soll ich denn mit diesen Leuten reden? Tommy hat mir natürlich gesagt, daß er ein paar Leute zum Essen einladen würde. Damals habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Ach, wäre ich doch nur wie Helen. Dann könnte ich mich über hundert Themen witzig unterhalten. Ich könnte mit jedem reden. Es würde überhaupt keine Rolle spielen. Aber leider bin ich nicht so. Vielleicht kann sie einfach so tun, als wäre sie ich, und ich verkriech' mich inzwischen im Kühlschrank.«
»Ich glaube kaum, daß Tommy darüber erfreut wäre.«
»Ich flieg' bestimmt die Treppe runter oder gieß' mir ein ganzes Glas Wein über mein Kleid oder bleib' am Tischtuch hängen und reiß' die ganze Bescherung runter, wenn ich aufstehe. Gestern nacht hab' ich geträumt, ich hätte im Gesicht lauter Pickel und Ausschlag bekommen, und die Leute hätten alle entsetzt gesagt: ›Was, das ist die Braut?‹«
St. James lachte und stellte sich neben sie vor den Spiegel. Aufmerksam musterte er ihr Gesicht. »Nirgends das kleinste Pickelchen. Was allerdings die Sommersprossen angeht ...«
Jetzt lachte auch sie, hell und klar, ein so wunderbares Lachen. Er trat von ihr weg.
»Ich habe ...« Er griff in seine Jackentasche und zog das Foto von Mick Cambrey heraus. »Sieh es dir an.«
Sie ging mit dem Bild ans Licht und betrachtete es einen Moment lang aufmerksam.
»Das ist der Mann«, sagte sie dann.
»Du bist sicher?«
»Ziemlich. Kann ich es mitnehmen und Tina zeigen?«
St. James zögerte. Gestern abend hatte es noch harmlos geschienen, Deborah mit einem Foto Mick Cambreys nach London zu schicken, um ihn von Tina Cogin vielleicht als den Mann identifizieren zu lassen, den sie gesehen hatte. Aber nach dem heutigen Gespräch mit Harry Cambrey, nach der Entdeckung des Zettels aus dem Talisman Café mit der rätselhaften Niederschrift, nach Erwägung der möglichen Motive für das Verbrechen und der Rolle, die Tina Cogin vielleicht in der ganzen Geschichte spielte, war er nicht mehr so sicher, ob er Deborah in die Ermittlungen über das Verbrechen überhaupt hineinziehen wollte.
Deborah bemerkte sein Zögern und stellte ihn vor vollendete Tatsachen: »Ich habe schon mit Tommy darüber gesprochen, und mit Helen auch. Wir nehmen morgen vormittag den Zug - Helen und ich - und fahren dann direkt in die Wohnung. Bis zum Nachmittag müßten wir also etwas mehr über Mick Cambrey wissen. Das hilft bestimmt weiter.«
Das konnte er nicht bestreiten, und sie schien Zustimmung in seinem Gesicht zu lesen.
»Also gut, abgemacht«, sagte sie und legte mit einer Geste der Endgültigkeit die Fotografie in ihre Nachttischschublade.
Als sie sich umdrehte, ging die Tür auf, und Sidney kam herein, eine Hand hinter ihrer Schulter am Reißverschluß ihres Kleides, mit der anderen wenig erfolgreich bemüht, ihr wirres Haar zu ordnen.
»Diese verflixten Zimmermädchen hier«, schimpfte sie.
»Sie räumen hin und räumen her, und ich finde überhaupt nichts mehr. Sie meinen es ja bestimmt gut, aber es ist eine echte Plage. Simon, würdest du mal - Mann, siehst du toll aus in dem Anzug. Ist er neu? Ich krieg' den Reißverschluß nicht selber hoch.«
Sie drehte ihrem Bruder den Rücken zu, und während der ihren Reißverschluß hochzog, sah sie Deborah an.
»Hey, du siehst hinreißend aus, Deb! Simon, sieht sie nicht hinreißend aus? Ach was, laß nur. Dich braucht man ja gar nicht zu fragen. Das einzige, was du seit Jahren hinreißend findest, sind Blutflecken und
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