0413 - Der Nebel-Vampir
als er die Tür zum Treppenhaus schließlich erreichte und öffnete.
Juliet stand vor ihm.
Er war betrunken, aber bei weitem nicht genug, um sie nicht sofort zu erkennen. Juliet war gekommen!
Sie stand draußen im Treppenhaus. Und sie trug keinen Faden am Leib.
Schlagartig wurde Stanley fast nüchtern. Der Schock vertrieb einen Großteil der Alkohol-Wirkung. »Juliet…? Wie – wie ist das möglich?«
Hatte nicht Zamorra gesagt, daß nichts auf der Welt Juliet wieder zum Leben erwecken könnte? Aber hier stand sie! Hatte Zamorra sich geirrt, oder hatte er anfangs nur keine falschen Hoffnungen wecken wollen? Aber wo war er denn, wenn er es geschafft hatte, Juliet zurückzuholen ins Leben? Warum war er nicht mitgekommen?
Oder war sie überhaupt nicht tot gewesen?
Sie war doch unmittelbar vor der Obduktion verschwunden…
Und so nackt, wie sie als vermeintlicher Leichnam gewesen war, war sie auch jetzt. Und sie war so schön wie eh und je.
»Komm doch endlich rein… warum stehst du draußen? Wenn dich nun jemand so sieht…« Er griff nach ihrer Hand und zog sie in die Wohnung. Sie bewegte sich etwas ungelenk, aber das mochte daran liegen, daß sie sich nackt unsicher fühlte. Stanley fühlte, daß der Alkohol immer noch einen Teil seiner Wirkung tat, aber er konnte immerhin halbwegs klar denken. Die Überraschung war zu perfekt gewesen.
Er wünschte sich jetzt, er hätte überhaupt nichts getrunken. Aber nun war es eben passiert.
Und fast hätte er sich am Abend noch selbst erhängt, weil er geglaubt hatte, Juliet für immer verloren zu haben und keinen Sinn mehr im Leben sah… Die Vorstellung, daß dieser Suizid erfolgreich stattgefunden hätte und nun Juliet in der Rolle der Witwe dagestanden hätte, ließ ihn erschauern und ernüchterte ihn noch weiter.
»Komm, ich bringe dir ein paar Sachen. Zieh dir etwas an…« Er suchte das Schlafzimmer auf. Ein paar Minuten später kam er mit Juliets Sachen wieder ins Wohnzimmer. Sie stand immer noch da, wie sie zuletzt gestanden hatte. Wie ein Roboter, den jemand abgeschaltet hat.
Stumm lächelte sie ihn an. Mit mechanischen Bewegungen begann sie sich anzukleiden.
Er sah die Flasche auf dem Tisch und fühlte immer noch den Durst, aber er beherrschte sich. Er wechselte erst einmal auf Fruchtsaft über. Seine Bewegungen wurden etwas sicherer.
»Wo bist du die ganze Zeit über gewesen?« fragte er. »Warum hast du dich versteckt? Warum bist du überhaupt fortgelaufen? Warst du in Panik? Sie hätten dich schon nicht aufgeschnitten, wenn sie gesehen hätten, daß du wach warst.« Er trat zu ihr und küßte sie. Sie erwiderte den Kuß, schlang die Arme um seinen Nacken. Ihre Lippen wanderten an seinem Kinn entlang, hinab zum Hals.
Mit einem Ruck löste sie dann die Umarmung und trat einen Schritt zurück. »Stanley«, sagte sie leise, und in ihrer Stimme war etwas Fremdes. Etwas Kaltes, das er noch nie an ihr vernommen hatte. »Es ist nicht ganz so, wie du glaubst.«
»Komm, setz dich erst einmal und erzähle es«, bat er. »Du mußt ja völlig erschöpft sein. Du bist den ganzen Weg von York nach hier zu Fuß gegangen, nehme ich an. Was war überhaupt mit dir los? Kannst du dich erinnern?«
Sie sah ihn unverwandt an.
»Ich liebe dich, Stan«, sagte sie leise.
Er lächelte. »Natürlich.« Er faßte nach ihren Händen. Sie hob die linke Hand, führte sie an ihren Busen und zog Stanleys Hand dabei mit. Er berührte den dünnen Stoff der Bluse, die sie eben angezogen hatte, und er konnte ihren Herzschlag spüren – Nein!
Irritiert fühlte er nach, tastete. Aber da war nichts.
Kein Herzschlag.
Seine Augen weiteten sich. Das war doch völlig unmöglich. Ein Mensch, dessen Herz nicht schlug, konnte nicht leben.
»Es stimmt, Stan«, sagte sie leise, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Ich bin tot.«
Er wich zurück. »Das ist nicht wahr«, stieß er verwirrt hervor. »Es kann nicht sein. Du stehst hier aufrecht vor mir, du bewegst dich, du sprichst! Wir haben uns geküßt! Du lebst, Juliet.«
»Ich lebe.«
Er atmete tief durch. »Warum machst du dann einen solchen makabren Scherz mit mir?« Unwillkürlich stieg der böse Verdacht in ihm auf, daß sie den Verstand verloren hatte. Sie sollte tot gewesen sein. Wenn sie nun tatsächlich für eine kurze Zeit klinisch tot gewesen und aus irgend welchen unerklärlichen Gründen wieder erwacht war – wenn das Gehirn zu lange ohne Sauerstoff gewesen war…? Konnte es sein?
»Himmel«, flüsterte er. »Tu mir
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