0424 - Das lebende Bild
mich vor immer größere Rätsel.
Ich betrachtete es noch einmal.
Ein Wesen war hervorgesprungen, das zweite befand sich noch darin. Es sah so aus, als befände es sich auf dem Sprung, um mir an die Kehle zu fahren und mich umzubringen.
In meinem Hals saß ein dicker Kloß. Durch die Nase holte ich Luft, blickte noch einmal nach unten, schabte mit dem Fuß über die Stelle, wo das erste Untier lag. Ich spürte auch weiterhin keinen Widerstand. Die Bestie war eins mit den Steinen geworden.
Wieso?
Niemand war in der Nähe, der mir Auskunft über dieses Geschehen hätte geben können. Alle Rätsel mußten in diesem lebenden Bild verborgen sein. Ich wollte es genau wissen.
Ein wenig fürchtete ich mich schon davor, so dicht an das Gemälde heranzutreten.
Auch jetzt konnte ich mich darüber nur wundern. Da wo die erste Bestie gestanden hatte, befand sich ein tiefschwarzes Loch.
Konnte ich möglicherweise in das Gemälde hineinsteigen und so in eine andere Zeit gehen?
Der Gedanke daran war nicht nur fantastisch, er faszinierte mich regelrecht.
Eigentlich hatte ich den Auftrag diesen Bilder-Franz zu stellen, doch daran dachte ich in diesen Momenten nicht mehr. Das Bild übte auf mich eine magische Anziehungskraft aus, und ich stand nur einen Schritt davor.
Aber freiwillig eine Dimensionsreise zu unternehmen ist eine riskante Sache.
Ich hob den Blick ein wenig an, so daß ich die zweite Gestalt erkennen konnte.
Noch immer stand die Bestie auf dem Sprung, die mächtigen Muskeln gespannt, das Maul geöffnet, die Arme angewinkelt und gleichzeitig ausgestreckt. Dabei die ebenfalls dicken Finger so gebogen, daß die gefährlichen Krallen wie kleine Messer wirkten, deren Spitzen auf mich wiesen, als wollten sie jeden Augenblick in meine Haut schlagen.
Dahinter sah ich die Flammen.
Hell loderten sie auf, waren jedoch erstarrt, obwohl sie so wirkten, als wollten sie jeden Moment nach mir fassen und mich verbrennen. Zu beiden Seiten der Feuerwand war die hölzerne Wand oder der Eingang durch den mächtigen Druck der Körper zersplittert worden. Auch die Holzstücke hatte der Künstler so gezeichnet, als flögen sie dem Betrachter direkt entgegen, so daß dieser nur noch die Hand auszustrecken brauchte, um sie aufzufangen.
Mich aber interessierte die Öffnung, wo einmal das erste Ungeheuer gehockt hatte. Vorsichtig streckte ich meinen linken Arm aus, während die Finger das Kreuz festhielten.
Kaum hatte ich den Handrücken direkt an die Öffnung herangebracht, da spürte ich bereits die Kälte, die über meine Haut strich, so daß sich die winzigen Härchen auf den Fingern in die Höhe stellten.
Das war eine besondere Kälte, nicht so eine, wie sie draußen lag.
Die Kälte, die aus dem Bild strömte, kam mir greifbar vor. Bald wie eine Masse, in die ich hineinfassen konnte, die sich um meine Hand legte, als wäre sie ein Vorhang.
Sie bewies mir gleichzeitig, daß ich mit meiner Vermutung recht gehabt hatte.
Vor mir lag tatsächlich der Einstieg in eine andere Dimension. Bevor ich mich entschied, was zu tun war, wollte ich die heilen Stellen des Gemäldes noch einmal genauer unter die Lupe nehmen. Mit beiden Händen fühlte ich nach, drückte auch dagegen und stellte fest, daß die Leinwand dem Druck meiner Finger nachgab.
Ich faßte auch die Bestie an.
Der Körper hatte die gleiche Temperatur wie die Umgebung.
Nichts an Wärme, nichts an Leben.
Und doch war er nicht tot.
Noch einmal streckte ich meine Hand in das Loch. Diesmal etwas tiefer, und schon spürte ich den Sog, dem auch das Kreuz nichts entgegensetzen konnte. Zwar veränderte es sich – es wurde dunkler, das war aber auch alles, keine gegenteilige Reaktion des Kreuzes war zu spüren.
Zerstören oder so lassen?
Diese Frage stellte sich mir, doch ich wurde einer Antwort enthoben, denn die andere Seite, die magische, handelte. Wahrscheinlich hatte ich zu lange gezögert. Ich hätte auch meine Hand wieder aus der Öffnung hervorziehen sollen, aber hinterher ist man immer schlauer.
Da jedoch erfaßte mich bereits die Magie der anderen Seite und riß mir den Boden unter den Füßen weg.
Ohne daß ich etwas dagegen unternehmen konnte, fiel ich nicht nur gegen das Bild, auch hinein, und das Loch verschluckte mich wie einen hastig hingeworfenen Ball…
***
Sheila Conolly lächelte Suko zu, der im Sessel saß und zu der blonden Frau hochschaute. »Noch einen Tee, Suko?«
»Nein, danke, Sheila.«
Shao, Sukos Partnerin, wedelte lässig mit der Hand.
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