0424 - Das lebende Bild
den Kohlefeuern. Andere waren in die Schenken gegangen, wo es hoch herging. Männerlachen schallte bis auf die Straße.
Ich suchte einen bestimmten Turm, der den Henkersteg markierte. Er konnte nicht mehr weit entfernt sein, und als ich die Lagerhäuser passiert hatte, sah ich ihn bereits.
Der Turm ragte über die Dächer hinweg. Er stand dicht am Ufer, wo eine Brücke begann, die über den Fluß führte. Neben dem Turm stand eine Schenke. Sie war die größte, die ich bisher gesehen hatte.
Irgend etwas sollte hier stattfinden. Vielleicht eine Hinrichtung, ich würde es schon in Erfahrung bringen.
Vor der Schenke herrschte viel Betrieb. Die Leute unterhielten sich. Manche laut, andere flüsternd. Leider verstand ich nur wenig, aber ich sah oft genug ihre Gesichter im Schein der Fackeln und erkannte die Gänsehaut auf ihren Wangen.
Sie fürchteten sich vor irgendeiner Sache.
Neben dem Gasthaus standen die Pferde. Ich kannte die Eisenringe von der Schmiede her. An sie wurden die Zügel gebunden, so daß die Tiere nicht fortlaufen konnten.
Ich überlegte bei einer Zigarette, was ich tun sollte. In die Schenke hineingehen und mich unter das Volk mischen?
Das wäre nicht schlecht gewesen. Dort erfuhr man am meisten.
Aber ich befand mich leider nicht in meiner Zeit. Ich würde auffallen, vielleicht sogar als Feind behandelt werden, so war es für mich ein Risiko, in das Lokal zu gehen.
Irgend etwas irritierte mich. Ich schaute nach links und sah einen jungen Mann, der mich unverwandt anstarrte.
Als ich ihm zulächelte, verzogen sich seine Lippen. Er trat einen Schritt näher, starrte auf meine Zigarette, die ich zu Boden warf, wo die Glut im Schneematsch verzischte.
»Wer seid Ihr?« fragte er mich.
»Ein Fremder. Und wer seid Ihr?«
»Ich bin ein Student der Rechte.«
»Das ist gut.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht gut. Hier wird bald ein großes Unrecht geschehen.«
Ich wunderte mich über seine Sprache. Sie klang zwar altertümlich, war aber gut zu verstehen.
»Ich mag auch kein Unrecht.«
»Aber Ihr seid gekommen, um es zu sehen.«
Da ich noch immer nicht wußte, was er meinte, hob ich die Schultern. »Möglich.«
Er kam noch näher. Gegen die Kälte schützte er sich mit einem dicken Umhang, der innen gefüttert war. Auf seinem Kopf saß eine Wollmütze, das Gesicht war schmal. Es wirkte bläulich, anscheinend fror er. »Glaubt Ihr an Hexen, Fremder?«
»Kaum.«
»Aber die Menschen hier glauben daran. Wenn sie eine Hexe sehen, bringen sie sie um.«
»Und das soll heute geschehen?«
»Ja. Sie haben einen Finsterling beschworen, einen unheilvollen Geist«, flüsterte der Student. »Er wird erscheinen und die Hexen töten. Es sind schlimme Zeiten, in denen wir leben.«
Wann waren die mal nicht schlimm? dachte ich. »Habt Ihr so etwas schon erlebt?«
»Nein, nur gehört. Ich will es mir ansehen und darüber schreiben. Das ist ein großes Unrecht.«
»Weshalb erzählt Ihr mir das alles?« fragte ich.
Der Student nickte. »Das ist eine gute Frage. Ich habe Euch beobachtet. Ihr seid anders.«
Ich lächelte. »Wieso?«
»Eben anders als die Menschen hier. Ihr seht so aus, als wolltet Ihr Euch nicht mit Ihnen abgeben, ebenso wie ich. Mein Name ist Georg von Spränge.«
»Ich heiße John.«
»Ein sehr ungewöhnlicher Name.«
»Ich sagte schon, daß ich nicht von hier bin.«
»Deshalb auch die Kleidung.«
»Sicher.«
»Dann müssen wir wohl warten, John. Darf ich Euch vielleicht zu einem Glas ins Gasthaus einladen?«
»Eigentlich gern«, sagte ich, »doch ich möchte mich ein wenig umschauen.«
»Das kann ich verstehen. Soll ich Euer Führer sein?«
»Wenn Ihr wollt.«
»Ja, ich habe Zeit.«
»Wer soll denn getötet werden?« erkundigte ich mich.
»Die Menschen kenne ich nicht, aber ich habe erfahren, daß sie bereits hier sind.«
»Und wo?«
Er deutete an mir vorbei. »Seht ihr den Turm dort? Dort gibt es alte Verliese«, flüsterte Georg von Spränge. »Sie warten darin schon seit Tagen auf ihre Hinrichtung.«
»Ich möchte mit ihnen sprechen!«
Diese Antwort erschreckte ihn so sehr, daß er einen Schritt zurücktrat und seine behandschuhte Rechte gegen den offenen Mund preßte. »Ihr wollt mit ihnen sprechen?«
»Ist das schlimm?«
»Wenn man Euch erwischt, seid Ihr verloren.«
»Werden die Gefangenen bewacht?«
»Ja.«
»Aber es gibt einen Weg?«
»Dort stehen Wachen.«
»Geht Ihr mit, Georg?«
Ich hatte ihn durch meine letzte Frage in eine Zwickmühle
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