0458 - Eine Frau regiert die Unterwelt
Boden.
John Füllers Anruf traf ihn wie ein Keulenschlag. Sein Reaktionsvermögen war erstaunlich. Fast im gleichen Augenblick ließ er von seinem Opfer ab, und während er sich zur Seite warf, fuhr seine Rechte unter das Jackett.
Er brachte die Hand mit der Pistole nicht mehr zum Vorschein. Das Stahlmantelgeschoss aus Füllers Automatik traf ihn in die linke Schulter, riss ihn zurück, bis er stöhnend zusammenbrach.
Der G-man ging kein Risiko ein. Mit der Automatik im Anschlag näherte er sich ihm, holte einen kurzläufigen Derringer aus seiner Schulterhalfter hervor und steckte ihn ein. Erst dann sah er sich nach der Frau um.
Lucia Priestly war bei Bewusstsein. Sie umklammerte mit beiden Händen ihren Hals, um den noch immer die Schnur lag. Ihrem unbewegten Gesicht sah man nicht an, dass sie beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen wäre.
»So helfen Sie mir doch«, fuhr sie den G-man an. »Sehen Sie nicht, dass ich nicht laufen kann?«
John Füller griff ihr unter die Arme und hob sie ins Bett.
Der Verletzte stöhnte leise. Er hatte die Augen geschlossen.
Mit einem Sprung war Füller bei ihm und ließ ein paar stählerne Handschellen um seine Gelenke schnappen. Die Schussverletzung war nicht gefährlich und blutete nur wenig.
»So tun Sie doch was!«, sagte Lucia Priestly. »Oder wollen Sie zusammen mit dem da bei mir übernachten?«
»Wir können auch eine kleine Party feiern, Madam«, ließ sich eine Stimme vom Fenster vernehmen.
Es war Nick Porter, der seinen Kollegen Füller ablösen wollte. Durch Johns Schuss war er aufmerksam geworden.
Mit einer gekonnten Flanke schwang er sich durchs Fenster. Er hatte einen etwas zu breiten Mund, der auf sein Vollmondgesicht ein ewiges Lächeln zauberte. »Kleine Mitternachtsparty, was? Willst du mich der Dame nicht vorstellfen, John?«
Aber Lucia Priestly schätzte seinen Humor nicht. Sie schien vergessen zu haben, dass sie eben erst dem Tod von der Schippe gesprungen war.
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte sie schneidend und befreite sich nun endgültig von dem Halsschmuck, den ihr der nächtliche Besucher verpasst hatte.
»FBI«, sagte Nick Porter, »immer zur Stelle, Wie die Situation beweist. Kennen Sie den Mann?«
»Nein«, antwortete sie, ohne einen Blick auf den Verletzten zu werfen. »Aber Sie kenne ich auch nicht.«
»Das ist schade.« Nick wandte sich an Füller. »Ich glaube, wir sollten den Chef anrufen. Vielleicht gibt es hier so was wie ein Telefon?«
»In der Diele ist eins, das können Sie benutzen«, sagte Lucia Priestly, als sie sah, dass Porter auf ihr Telefon neben dem Bett schielte.
Nick zuckte die Achseln und verließ das Zimmer.
»Eigentlich komisch, Miss, dass sich niemand blicken lässt«, sagte John Füller langsam. »Sie haben doch Angestellte im Haus.«
»Warum fragen Sie, wenn Sie so gut Bescheid wissen?«, gab sie spitz zurück. »Aber wenn es Sie beruhigt, die Leute schlafen im rechten Flügel des Hauses.«
»Und dort hört man nichts?«
»Nein.«
»Nicht einmal einen Pistolenschuss?«
Sie würdigte ihn keiner Antwort, zog die Bettdecke bis zum Hals hinauf und blickte ihn starr an.
***
Ich war ganz schön sauer. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch, der endlich mal eine Nacht durchschlafen wollte. Dass ich es wieder nicht konnte, lag an Lucia Priestly und ihrem potenziellen Mörder.
Schon als ich sie wieder in ihrem chromblitzenden Rollstuhl sitzen sah, kalt und unbeweglich wie immer, hätte ich diesem Affentheater am liebsten ein Ende genlacht.
Ich hatte darauf bestanden, dass der Verletzte nicht transportiert wurde. Ich wollte ihn bei der Unterhaltung mit Lucia Priestly dabeihaben. Der Doc hatte ihm einen Notverband angelegt.
»Also, Miss Priestly, Sie behaupten immer noch, dass Sie den Mann nicht kennen?«
»Ja.«
»Sie haben ihn nie gesehen und wissen auch nicht, wie er heißt?«
»Das ist doch wohl dasselbe«, gab sie spöttisch zurück.
»Vielleicht«, sagte ich und ließ mir von Nick eine Brieftasche geben, die ich spielerisch in der Hand wog.
»Wissen Sie, was wir darin gefunden haben?«, fragte ich.
Sie zuckte desinteressiert die Achseln.
»Ich will es Ihnen sagen: die Fotokopie eines Trauscheins.«
»Warum nicht?«, sagte sie. »Der Mann wird eben verheiratet sein.«
»Und es interessiert Sie auch nicht, was in dem Trauschein steht?«
»Nein.«
»Aber vielleicht möchten Sie gern von mir erfahren, wie der Mann heißt, der Ihnen so liebevoll einen Strick um den Hals gelegt
Weitere Kostenlose Bücher