0474 - Der Hexenstein
lebte im abseits gelegenen Gasterntal eine namenlose Hexe, die Angst und Schrecken verbreitete. Sie soll Menschen zu sich ins Haus gelockt und mit ihnen Dinge angestellt haben, wie sie auch im Märchen Hänsel und Gretel niedergeschrieben worden sind. Also sehr schlimme Sachen. Wie ein Märchen endete auch die Geschichte. Furchtlose Menschen fanden sich zusammen und gingen gegen die Hexe vor. Man verbrannte sie nicht, wie es im Märchen steht, in diesem Fall wurde die Hexe gebannt. Und zwar in einem Stein.«
Ich runzelte die Stirn. »Im Gasterntal?« fragte ich.
»Ja, auf dem Weg zum Tal. Wenn Sie dort hergehen, werden Sie noch heute den Stein sehen können.« Stahlmenger zeichnete mit der Hand eine schiefe Ebene. »So ungefähr steht er seit langen Jahren im Wasser. Er ist viereckig, als hätten ihn die Menschen damals besonders geformt und bearbeitet. Noch heute gibt es einen alten Aberglauben in Kandersteg. Wenn jemand den Stein passiert, muß er einen Kiesel- oder Schieferstein nehmen und ihn so auf den Hexenstein werfen, daß er darauf liegenbleibt. Erst wenn dies der Fall ist, hat er den Segen der Hexe und darf das Gasterntal betreten.«
Ich lächelte schmal. »Eine hübsche Geschichte. Aber kann sie etwas mit der Rückkehr des Zombies zu tun haben?«
Heinz Stahlmenger breitete seine Arme aus. »Das müssen wir eben herausfinden.«
Ich kam wieder auf die Hexe zu sprechen. »Deren Geist ist also in dem Stein gebannt worden.«
»Ja.«
»Gesetzt den Fall, dies stimmt, ist es vielleicht möglich, daß sich die Hexe befreien kann?«
Stahlmenger hob die Schultern und nickte gleichzeitig. »Das ist eine andere Geschichte.«
»Erzählen Sie!«
»Bei Ihrem ersten Besuch haben Sie wahrscheinlich nichts davon gehört. Oder hat Ihnen jemand etwas über die Gasternbibel erzählt?«
»Nein.« Stahlmenger lächelte. »Die Gasternbibel ist ein uraltes Buch. Jetzt fast dreihundert Jahre alt. 1696 angefangen, wird sie heute noch weitergeschrieben. Der Wirt eines alten Berglokals ist jeweils der Besitzer. Das Buch wurde von Generation zu Generation weitergegeben und befindet sich nur in den Händen der Wirtsfamilie. Es wird geführt wie ein Tagebuch. Wenn Sie darin lesen, werden Sie feststellen, daß alle herausragenden Ereignisse, die im Laufe der Zeit passierten, niedergeschrieben wurden. Ob heiße Sommer oder eiskalte, lange Winter. Ob Vieh erfroren oder Menschen unter extremer Kälte starben, das alles finden Sie dort. Selbst Tschernobyl ist erwähnt worden und die Angst der Menschen vor der Strahlung…«
»Was hat das mit der Hexe zu tun?« fragte ich, einen Schluck Tee dabei nehmend.
»Augenblick, darauf komme ich noch. In den Anfangstagen oder Jahren des Buches schrieb man nicht nur die äußerlichen Bedingungen nieder, nein, man beschäftigte sich auch mit den legendenhaften Geschichten. Mit den Sagen aus diesem Tal. Die Bergwelt war für die Menschen damals nicht tot, sie lebte, und sie lebte auch mit dieser Hexe vom Gasterntal. Soviel bekannt ist, muß in der Gasternbibel ein Spruch stehen, der besagt, wie die Hexe befreit werden kann.«
»Also raus aus dem Stein?«
»Ja.«
Ich dachte nach. Heinz Stahlmenger störte mich nicht bei meinen Überlegungen. Wenn ich die Geschichten miteinander verglich und sie auch verband, hatte ich eigentlich einen roten Faden gefunden. Der Zombie, die Hexe und die Gasternbibel.
Das Buch befand sich im Gasterntal in einem alten Haus. Möglicherweise war Thomas auf dem Weg dorthin gewesen, um das Buch an sich zu nehmen und die Hexe, wenn er den Erlösungsspruch gesagt hatte, befreien zu können. Er suchte einen Helfer, er brauchte ihn, denn vor zwei Jahren hatten ihm auch drei Untote zur Seite gestanden. Das würde sich hier in veränderter Form wiederholen.
»Haben Sie die Lösung, Mr. Sinclair?«
»Ich glaube schon.«
»Da bin ich gespannt.«
Ich berichtete Stahlmenger von meinen Vermutungen und sah sein heftiges Nicken. »Kein Widerspruch, Mr. Sinclair, wirklich nicht.«
Ich leerte mein Teeglas. »Wissen Sie noch mehr über die Gastern-Hexe?«
»Nein, das ist alles.« Stahlmenger blickte aus dem Fenster. »Mehr brauchen wir auch nicht zu wissen. Ich gehe inzwischen davon aus, daß sich Thomas im Gasterntal aufhält, um die Bibel zu holen.«
»Dann müssen wir auch dorthin.«
»Sicher.« Der Deutsche wirkte sehr nachdenklich. »Nur ist der Weg ziemlich beschwerlich. Im Sommer ist der Zugang zum Tal nur zu bestimmten Zeiten offen. Allerdings nur für einen
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