0474 - Der Hexenstein
finden, und ich gebe dir die Kraft, ihn auch lesen zu können. Wenn du die Seite gefunden hast, reiße sie heraus, nimm sie mit und komm zum Stein.«
»Ich habe verstanden.«
»Dann beeile dich, denn ich spüre eine Gefahr, die in der Nähe lauert.«
»Welche?«
»Ich kann es dir nicht sagen, aber sie ist vorhanden. Sie ist stark, kann uns gefährlich werden, glaube mir…«
»Ja, ich beeile mich.«
Die graue, widerliche, mit Wunden bedeckte Gestalt ließ sich an einem der Tische nieder. Dann öffnete der Zombie das Buch.
Auch jetzt befolgte er den Rat der Hexe und ging sehr vorsichtig zu Werke. Nur nichts zerreißen oder zerstören. Die neuere Zeit interessierte ihn nicht, er wollte zurück in die vergangenen Jahrhunderte, wo die Macht verschiedener Dämonen, Geister und Hexen noch größer gewesen war. Nach einigen Minuten hatte er es geschafft, die Seite aufzuschlagen, die so wichtig war. Andere Seiten waren bei dieser Arbeit zum Glück nicht zerstört worden.
Und plötzlich las er.
Ein Zombie, der tatsächlich lesen konnte! So etwas gab es normalerweise nicht, aber er war praktisch über den Spruch gestolpert und formulierte ihn in Gedanken!
Es waren Hexenworte, die da standen. Geschrieben in einer alten, fremden und düster klingenden Sprache, denn die dunklen Vokale überwogen bei den Worten.
Während er die Worte im Geist nachformulierte, sah er so etwas wie eine Reaktion.
Die Buchstaben füllten sich mit Leben. Sie schienen in Flammen zu stehen. Weil sie rötlich aufleuchteten, hoben sie sich deutlich vom Papier ab.
Aber sie verschwanden nicht. Kaum hatte er die Formel gelesen, da nahmen sie wieder ihre normale graue Farbe an, als wäre mit ihnen niemals etwas geschehen.
Dafür hörte er die Stimme.
Die Hexe meldete sich wieder. Sie redete mit ihm, und sie beglückwünschte ihn dazu.
»Das hast du gut gemacht, mein Helfer. Ich spüre bereits die Wirkung, obwohl uns noch vieles trennt. Aber die Kraft strömt allmählich wieder zurück. Komm zum Hexenstein und komm bitte schnell.«
»Ja, das verspreche ich.«
Der Zombie riß die Seite aus dem Buch und stopfte sie in seine rechte Hosentasche, die noch heil geblieben war. Dann stolperte er hinaus in den weißen Schnee, fiel der Länge nachhinein, raffte sich wieder hoch und lief weiter.
Viel schneller als auf dem Hinweg. Er wollte die mächtige Gastern-Hexe auf keinen Fall enttäuschen…
***
Unter uns lag eine herrliche, bizarre, fantastische, für mich aber fremd wirkende Welt aus Eis, Schnee, Bergspitzen, Hochtälern und schroffen Felsen. Sie alle waren zusammengewachsen, bildeten dabei eine Einheit und stellten eine grandiose Kulisse da.
Ein Wunder der Natur!
Nach dem Start und beim ersten Überfliegen war ich aus dem Staunen nicht herausgekommen. Ich hatte mir noch eine dunkle Schneebrille geben lassen. Eis und Schnee reflektierten das Sonnenlicht sehr stark.
Durch die Brille sah ich die Berge in einem bläulichen Schimmer liegen, wie auch die Fläche des Oeschinensees, über den wir hinwegflogen.
Ich wurde das Gefühl nicht los, daß Heinz Stahlmenger bewußt einen kleinen Umweg flog, um mir diese prächtige Landschaft zu präsentieren. Sie war auch einmalig.
Auf dem zugefrorenen See liefen die Menschen Schlittschuh. In der Nähe bewegten sich Langläufer, Abfahrtsläufer jagten die Hänge hinab.
»Gefällt es Ihnen, John?« fragte mich Heinz Stahlmenger, der sehr sicher flog.
»Und wie. Wir haben auch ein Glück mit dem Wetter.«
»Jetzt aber zum Gasterntal. Außerdem dürfen wir nicht zu lange in der Luft bleiben. Ich habe Angst vor einer Vereisung. Sie verstehen?«
»Klar.«
Wir drehten noch einen großen Bogen, um danach das eigentliche Ziel anzusteuern. Manchmal winkten uns Skifahrer zu. An der Seilbahnstation Oeschinensee herrschte Hochbetrieb. Die Urlauber wirkten in ihrer farbigen Kleidung tief unter uns wie bunte, mechanische Spielzeugfiguren.
Heinz Stahlmenger winkte mir zu. »Jetzt geht es direkt zum Gasterntal.«
»Können wir dort landen?« erkundigte ich mich sicherheitshalber noch einmal.
Er lachte und nickte dabei. Dank der Glaskanzel hatten wir fast eine Rundumsicht.
Ein wunderbarer Flug war dies.
Wir verloren wenig später schon an Höhe, weil Heinz Stahlmenger dicht über die enge Schlucht des Tals hinwegfliegen wollte, um mir einen ersten Eindruck zu gestatten. Die Rotorblätter schleuderten den unter uns liegenden Schnee zu gewaltigen Wolken in die Höhe.
Dennoch gelang es mir hin und wieder, Blicke
Weitere Kostenlose Bücher