0474 - Der Hexenstein
sie, mein Freund. Nur dann können wir das Gasterntal in eine Hölle verwandeln.«
»Ich werde mich noch mehr beeilen.« Thomas verließ sein Versteck. Der lange Weg hatte Spuren bei ihm hinterlassen. Auf seiner kalten Haut klebte der Schnee. Auch das Gesicht hatte darunter gelitten. Seine teigige Haut trat nur an bestimmten Stellen hervor. Die anderen Teile waren schneebedeckt.
Als er das Rauschen des Wassers hörte, war er froh. Nach wenigen Minuten lag nicht nur der Höhenunterschied hinter ihm, er hatte auch den Wald verlassen und hetzte nun über die freie Fläche.
Seine Bewegungen waren unsicher, die Arme pendelten und schwangen auf und nieder. Er hielt den Kopf nach vorn gedrückt, spürte aufkommenden Wind, der gegen seinen Rücken blies, so daß er noch schneller lief und sogar den Eindruck hatte, fliegen zu können.
Er hielt sich in Flußnähe, wo der Schnee nicht so hoch lag. An diesen Stellen kam er besser weg.
Das Wasser floß, an den Uferrändern jedoch klammerten sich Eisschollen fest, oft zackig wie Spiegelscherben aussehend.
Büsche säumten den Uferrand. Manche hingen über, wurden im Sommer vom Wasser umspült, jetzt sahen sie aus, als würden sie aus dem dünnen Eis am Rand hervorstechen.
Wenn dem Zombie die gefrorenen Zweige im Weg standen, brach er kurzerhand hindurch. Nichts hielt ihn auf, und bald schon verließ er die Uferregion des Flusses und hetzte über ein weites Schneefeld, über das bereits die ersten Schatten der Felswände fielen und ihm einen grauen Anstrich gaben.
Er atmete nicht und rannte weiter.
Es war ein Laufstil, den man schlecht einordnen konnte.
Das Geräusch des Hubschraubers vernahm er nicht mehr, dafür hörte er wieder die Stimme der Hexe, die ihn zu einer noch größeren Eile antrieb.
»Ich spürte, daß du es schaffst. Ja, ich merke es genau. Du kommst mir immer näher. Bald bist du wieder bei mir, dann kann ich endlich befreit werden…«
Thomas strengte sich noch mehr an. In seinen völlig verschmutzten Haaren klebte der Schnee.
Manchmal liefen Wasserbahnen über sein aufgedunsenes Gesicht, in dem sich ebenfalls die Dreckspuren wie die Kriegsbemalung bei einem Indianer abzeichneten.
Er und die Hexe!
Sie beide würden sich wunderbar ergänzen und die Umgebung in eine Hölle verwandeln.
Schon sah er vor sich den Platz seiner ersten Bluttat. Das kleine Gasthaus am Eingang der Schlucht lag einsam und verlassen. Man hatte die Toten fortgeschafft.
Die Schatten holten ihn auch hier ein. Wenn die Sonne verschwunden war, würden die Temperaturen wieder sinken. In der Nacht war die Kälte besonders arg. Sie ließ das gesamte Gasterntal erstarren und verwandelte es in eine tote Winterwelt.
Der Zombie eilte links am Waldhaus vorbei und entdeckte auch hier die Spuren derjenigen, die sich ebenfalls ins Gasterntal begeben hatten und seine Feinde waren.
Als er die Schlucht betrat, hatte er noch so viel Schwung, daß er auf dem bergab führenden Weg ausrutschte, hinfiel, sich überschlug und weiterrollte. Fast wäre er noch im eisigen Wasser des Wildbachs gelandet, doch an einem aus der Erde wachsenden Stein konnte er sich abstützen.
Er raffte sich auf. Mit breitbeinigen Bewegungen stakste er weiter, behielt sein Gleichgewicht und sah schon bald die Steinbrücke, unter der ein tosender Wildbach herfloß.
Noch vor der Brücke lag der Stein!
So etwas wie ein Lächeln zuckte über seine Lippen. Die Augen waren weit aufgerissen. Sie glichen Kugeln, die aus den Höhlen zu quellen schienen. Seine Bewegungen wirkten schlenkernd, er schleuderte bei jedem Schritt die Arme hoch, als wären irgendwo Stangen, an denen er sich festhalten konnte.
Dann blieb er stehen, drehte sich um und sah vor sich den schrägen Hexenstein.
Er sah auch das Gesicht und hörte gleichzeitig die Stimme der Gastern-Hexe.
»Du bist da. Jetzt kann nichts mehr passieren. Ich habe dir die Sprache deshalb gegeben, damit du in der Lage bist, die Worte laut vorzulesen, die zu meiner Befreiung führen. Lange genug haben es die Menschen verstanden, die Worte zu verbergen. Das ist nun vorbei. Du bist gekommen, um sie zu lesen. Fang an!«
Der Zombie ließ die Axt fallen. Mit einem dumpfen Laut landete sie neben ihm im Schnee. Dann holte er die aus der Bibel herausgerissene Seite hervor und faltete sie auf.
Wind fuhr kalt durch die Schlucht, erfaßte auch das Papier und knickte es. Der Zombie mußte es mit seinen beiden Pranken festhalten, beugte sich vor und schaute über den Rand hinweg auf den
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