0486 - Der unheimliche Shaolin
rechten Hand. Sie bestand aus einem lederähnlichen Material, das allerdings härter war als das normale Leder, das er kannte.
Der Verschluß war verschmutzt. Yakup blies Staub weg, putzte mit dem Zeigefinger nach, trat wieder an das Fenster, weil das Licht dort besser war, und öffnete die obere Hälfte der Schatulle.
In der unteren lag etwas.
Zunächst wußte Yakup mit diesem Gegenstand nichts anzufangen. Er sah aus wie ein kleines Tuch, das jemand sehr ordentlich zusammengelegt hatte. Mit spitzen Fingern zog Yakup das Tuch hervor und faltete es behutsam auseinander.
Er wußte es nicht genau. Sein Instinkt aber sagte ihm, daß er hier etwas Besonderes vor sich hatte, das sehr lange in der kleinen Mauer versteckt gelegen haben mußte.
Auf der nach innen führenden und leicht geneigten Fensterbank breitete Yakup das Tuch aus. Er blies letzte Staubreste weg und erkannte die Linien, Striche und Bögen, die auf die Oberfläche gezeichnet worden waren. Einige Buchstaben entdeckte er ebenfalls, konnte aber nichts damit anfangen. Hochkant stehende Dreiecke lagen nebeneinander und bildeten einen regelrechten Klumpen.
So zeichnete man Berge nach.
Yakup überlegte. Er schaute sich auch die Ränder seines Funds genau an. Sie waren sehr glatt, nicht zerfasert. Jemand mußte dieses Fundstück von einem anderen Teil sauber abgeschnitten haben.
Inzwischen war dem Türken klargeworden, daß er hier den Teil eines Planes in der Hand hielt. Der Form nach zu urteilen, konnte der Plan geviertelt worden sein.
Ein Viertel hatte er in der Mauer gefunden. Jetzt brauchte er nur die anderen drei zu finden.
Aber wo? Auch innerhalb des Klosters. Er würde wohl kaum die Mauern abreißen lassen, nur um auf Verdacht hin andere Teile dieses Puzzlespiels zu finden.
Wer auch immer den Plan innerhalb der Mauer verborgen hatte, mußte gewußt haben, daß es sich bei ihm um ein sehr wertvolles Stück gehandelt hatte. Sonst hätte er den Plan nicht zu verstecken brauchen. Die Zeichen waren auf dünnes Leder gemalt worden. Das konnte Rinderhaut sein, sie hielt sich ja über Jahrhunderte.
Wichtiger als diese Frage war eine andere. Was konnten die Zeichen auf dem Leder zu bedeuten haben?
Sie mußten wichtig sein und auf irgendein Geheimnis hindeuten. Yakup kam zu dem Ergebnis, daß ihn der Zufall auf eine wichtige Spur gebracht hatte.
Oder war es kein Zufall gewesen? Hatte das Schicksal vielleicht wieder einen großen Bogen geschlagen?
So etwas lag durchaus im Bereich des Möglichen, davon war Yakup fest überzeugt.
An das Wegräumen des Schutts dachte er nicht mehr. Für ihn zählte nur noch dieser Plan. Möglicherweise besaß er auch die Hälfte. Im Licht sah er ihn sich noch einmal genauer an.
Yakup erkannte auch die Hälfte eines Pfeils. Die Spitze zeigte auf einen bestimmten Punkt. Wenn man die Linie weiter verfolgte, landete man dort, wo auch die Berge aufgezeichnet waren.
Da mußte es etwas zu finden geben!
Es hatte keinen Sinn, lange darüber nachzudenken, es gab einfach zu viele Möglichkeiten. Vielleicht gelang es Yakup, durch intensive Konzentration und Meditation der Lösung ein Stück näherzukommen. Dafür benötigte er Ruhe und auch Zeit.
Er verließ die Bibliothek.
Im Gang stand er allein. Aus den Trainingsräumen unter ihm vernahm er hin und wieder helle Kampfschreie und den harten Schlag der Kendostöcke, wenn sie gegeneinander prallten. Wer sich entschlossen hatte, hier zu lernen, bekam eine umfassende Ausbildung. Man lehrte nicht nur das Kämpfen, auch der Geist mußte entsprechend eingestellt werden. Die Meditation war dabei ungemein wichtig und auch die Körperbeherrschung. So kam es vor, daß die Schüler auch so begraben wurden, daß sie nur mit dem Kopf aus der Erde schauten.
Mindestens drei Tage und drei Nächte mußten sie in diesem Loch ausharren.
Yakup hatte Männer schon nach zwei Tagen schreien und winseln gehört. Sie hatten nach Wasser gefleht und aufgegeben. Wer aber die drei Tage durchhielt, den erschütterte im normalen Leben nichts mehr so leicht.
Gemessenen Schrittes ging Yakup den Gang bis zum Ende durch. Durch die kleinen Fenster fiel nur wenig Licht, so daß der Flur immer etwas düster wirkte. Darin unterschied er sich in nichts von den anderen Gängen innerhalb der Klostermauern.
Yakup, der nur noch neun Finger besaß, den linken, kleinen Finger hatte er sich abgeschlagen, betrat sein Refugium, wo er in Ruhe nachdenken konnte.
Der Raum atmete die Stille aus, die der Türke so liebte. Er
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