0486 - Der unheimliche Shaolin
war schlicht eingerichtet. Ein einfaches Lager, zwei harte Stühle, ein Tisch, ein Schrank, ein Regal - und natürlich die Waffen an den Wänden. Schwerter, Dolche, Kendostöcke, der Ninja-Bogen, die Pfeile, Seile mit Eisenkrallen, Wurfsterne, die Shuriken.
Wenn Yakup ging, um zu kämpfen, rüstete er sich damit aus. Momentan trug er keine Waffen am Körper.
Aus einem Regalfach holte er eine Kerze und stellte sie auf den Tisch. Er zündete den Docht an, ließ ihn anbrennen, bevor er die Kerze nahm und sie auf den Boden stellte. Er nahm im Schneidersitz vor der kleinen Flamme Platz und hielt den gefundenen Teil des Lageplans mit beiden Händen fest.
Das Feuer war für Yakup wichtig. Er verehrte die Flamme der Reinheit, weil sie so klar war und nicht falsch.
Wer sich mit der Flammenmagie beschäftigte, konnte aus dem Feuer viel herauslesen, und auch Yakup hoffte, daß ihm die Kerze helfen konnte, seinen Weg zu finden.
Möglicherweise gab sie ihm die Auskunft darüber, was hinter dem Plan steckte.
Da sie von keinem Luftzug gestört wurde, brannte sie sehr ruhig. Sie stand über dem Docht. Ein rotgelber, an den Rändern leicht bläulich schimmernder Zapfen, der Wärme abgab, die seicht über die Hände des Türken strich.
Yakup versenkte sich in die einfache Flamme und hatte das Gefühl, von ihr aufgesaugt zu werden.
Schon nach kurzer Zeit war sie für ihn mehr als nur ein Feuer, sie war die alles reinigende Kraft, sie war ein Mittler zwischen den Zeiten und füllte sein Blickfeld so weit aus, daß er nur dort hineinschauen konnte.
Die Flammen waren wichtig!
Sie würden ihm den Weg zeigen, wenn er sich immer stärker auf sie konzentrierte.
Nur seine Fingerspitzen bewegte er, strich damit über den Plan, fühlte nach Erhebungen und kleinen Vertiefungen auf dem dünnen Leder, konzentrierte sich auf das Feuer und hoffte, seinen Geist ebenso klar zu bekommen wie die Flamme.
Wenn alles Störende zur Seite gefegt worden war, konnte ihm eine andere Kraft die Antwort geben, auf die er so sehnsüchtig wartete.
Es tat sich etwas.
Sein Geist klärte sich noch stärker. Yakup dachte daran, daß er einfach sehen mußte. Er wollte hineinschauen in die Wahrheit, und seine Fingerkuppen glitten dabei tastend über das Fundstück.
Bekam er eine Antwort? Ja, er spürte etwas.
Tief in seinem Kopf kristallisierte sich ein Teil der großen Wahrheit hervor. Die Flamme und seine eigene Konzentration schafften es, Dinge zu überbrücken, die einem normalen Menschen verschlossen geblieben wären.
Er fand die Antwort!
Seine Fingerkuppen tasteten weiter über das Leder. Er bekam den Eindruck, hindurchzugreifen und trotzdem etwas anderes fühlen zu können. Das war nicht mehr das alte Leder, das war etwas völlig anderes. Er spürte den Sand, ertastete Steine, Hügel, Berge, sogar Wind strich um seine Kuppen.
Yakup befand sich mit seinen Fingern in einem fremden Land. Er hatte die Grenzen überwinden können, die Kraft und die Magie der Flamme hatten dafür gesorgt.
Ein fernes Land, eine Wüste, hohe Berge. Yakup bekam den Eindruck, alles sehen zu können.. Er schwebte zwischen den Dimensionen, er griff hinein, und Entfernungen spielten keine Rolle mehr.
Der Türke hielt die Augen weit geöffnet, nur konnte er mit ihnen nicht sehen. Er sah mit etwas anderem.
Mit seinen Fingern, mit seinen Sinnen. Er tastete sich voran, immer tiefer hinein in die Welt, in die Vergangenheit und in ein anderes Gebiet, das fern von dem Kloster lag.
Weit weg…
Nicht in Amerika.
Asien, die Wüste, die Berge, das rauhe, für den Europäer menschenfeindliche Land.
Tibet!
Genau das war es. Yakup hatte das Bindeglied gefunden. Der Teil des Plans mußte ein Gebiet wiedergeben, das sich in Tibet befand, vielleicht auf dem Dach der Welt, zwischen den schneebedeckten Eisriesen der Achttausender. Dort, wo eine Wiege der menschlichen Kultur gestanden hatte.
Tibet. Ein Name, der geheimnisvoll klang, wo sich Magie und Mystik trafen, wo die in den versteckt liegenden Bergklöstern die Mönche nach uralten Regeln und Lehren lebten. Wo man Kontakt mit den Göttern finden konnte und die Luft so rein und klar war wie sonst kaum irgendwo auf der Welt.
In Tibet spürte der Fremde, daß Mensch und Natur eine Einheit bildeten. Dort war niemand des anderen Feind.
Da mußte Yakup suchen, wenn er etwas finden wollte!
Er glich einer Statue. Unbeweglich hockte der Türke im Schneidersitz auf dem Boden und dachte über sein Wissen nach. Er wollte noch mehr
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