0491 - Ein Toter läuft um sein Leben
Angst. Das spüren Sie doch ganz genau, nicht wahr? Ich habe Angst! Dieses Gefühl gehört zu dieser Straße, wie der Geruch der Armut und die Atmosphäre von Elend und Gewalt. Tom sollte mich von hier wegnehmen. Und was geschieht? Er wird von Gangstern entführt! Ausgerechnet Tom!«
»Sie kennen die Gangster, nicht wahr? Sie fürchten sich nur davor, Namen zu nennen. Mir können Sie doch die Wahrheit sagen!«
Lucille schwieg. Sie stellte den Wasserkessel auf den Herd zurück. »Das mit den Zigaretten ist seltsam«, meinte sie ausweichend.
»Hat Tom sie von Weston besorgt?« wollte ich wissen.
»Wieso?«
»Ich frage nur. Ja oder nein?«
»Ich weiß es nicht. Was haben die Zigaretten mit der Entführung zu tun?«
»Unter Umständen eine ganze Menge. Nehmen wir an, daß Tom ungefähr zur Tatzeit in Westons Laden war. Vielleicht wurde Tom gesehen, als er mit den Zigaretten den Laden verließ. Es ist klar, daß Westons Gangsterfreunde daraus die notwendigen Schlüsse ziehen mußten. Ihr Tom raucht nicht. Folglich muß er mit seinem Besuch bei Weston andere Absichten verbunden haben, nicht wahr? So argumentieren jedenfalls die Gangster, fürchte ich. Die Burschen sind möglicherweise der Überzeugung, daß Blight den Alten erschossen und beraubt hat. Jetzt wollen sie von Blight wissen, was aus dem geraubten Geld geworden ist.«
»Aber das ist doch kompletter Unsinn!« hauchte Lucille.
»Finden Sie? Mit dem Unsinn ist das so eine Sache. Nichts ist verrückt genug, um nicht von irgend jemand geglaubt zu werden.«
»Sie haben recht!« sagte Lucille atemlos. »Ganz bestimmt haben Sie recht! Ja, so muß es gewesen sein. Tom hat die Zigaretten bei Weston gekauft. Irgendein Gangster hat Tom beim Verlassen des Ladens beobachtet. Der Gangster trommelte daraufhin einige seiner Komplicen zusammen, und sie kamen her, um sich die Beute zu sichern. Aber es gibt keine Beute! Die Spekulationen der Banditen sind falsch! Tom ist unschuldig. Er ist weder ein Räuber noch ein Mörder!«
»Ich hoffe, die Gangster finden das schnell heraus.«
»Nein!« sagte Lucille. »Nein!« Sie wurde leichenblaß. »Diese Burschen sind dumm und brutal. Sie werden Tom nicht glauben! Sie werden denken, daß er sie ’reinzulegen versucht. Sie werden ihn quälen und foltern, um ein Geständnis von ihm zu bekommen! Dabei kann er gar nichts gestehen! Er ist kein Verbrecher, Jack!«
»Rufen Sie das FBI an!« riet ich. »Würden Sie das für mich übernehmen, bitte? Ich traue mich nicht auf die Straße!«
»Okay, ich erledige das.«
Fünf Minuten später war ich angezogen. Ich verließ das Haus. Auf der Straße lehnte ein junger breitschultriger Bursche an der Laterne. Er rauchte eine Zigarette und schien die Nachtluft zu genießen. Als ich die Fahrbahn überqueren wollte, rief er träge: »He, Freund!«
Ich blieb stehen und schaute über die Schulter. »Was ist los?«
»Gib mir ’ne Zigarette. Das hier ist meine letzte!«
Ich machte kehrt und ging auf ihn zu. Ich hatte keine Zigaretten bei mir, aber ich war neugierig auf das Gesicht des jungen Mannes. Ich wünschte es mir einzuprägen. Für mich stand fest, daß er zu der Bande gehörte und den Auftrag hatte, eine Benachrichtigung der Polizei zu verhindern.
»Da drüben hängt ein Automat«, sagte ich. »Ich kann dir Geld geben, falls du pleite sein solltest.«
»Ich bin nicht pleite«, meinte er grinsend. »Vergiß es! Du bist neu in der Gegend, was?«
»Sicher. Warum fragst du?«
»Nur so. Unsereiner freut sich über jedes neue Gesicht. Die alten verursachen einem schon Übelkeit. Richtig schlecht wird einem dabei!«
»Mußt du dich in den Nachtstunden an der frischen Luft von soviel Ubelkeit erholen?« erkundigte ich mich spöttisch.
Er grinste mich an. »Ich will dir was sagen, Freund. Diese Straße hat es in sich. Da du gerade von der Luft sprichst: Sie bekommt hier nicht jedem. Man muß in der Brickstone Road geboren sein, um sie verkraften zu können. Du solltest das Quartier wechseln, und zwar möglichst schnell. Leg dich wieder in die Klappe und laß dir den guten Rat durch den Kopf gehen!«
»Ich bin nicht müde«, sagte ich.
»O doch«, meinte er. Sein Grinsen vertiefte sich. »Du bist müde. Zum Umfallen müde sogar! Geh wieder ‘rauf und tu was für deine Gesundheit!«
Ich schüttelte den Kopf und wandte mich zum Gehen. Ich schaffte genau drei Schritte. Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich wirbelte auf den Absätzen herum. Der Bursche stand mir dicht gegenüber.
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