050 - Die Blutsauger
wieder fragte sich Leroy, ob das alles nur ein Wahn war. Hatte Henry Foster doch recht? War er nun geisteskrank? Aber er hatte sie doch so deutlich gesehen, er hatte mit ihr gesprochen, ihr süßliches Parfüm gerochen. Verließen ihn alle seine Sinne? Beruhten alle seine Wahrnehmungen auf seiner Einbildungskraft?
Er warf sich verzweifelt auf das Bett und schlief ein. Es war ein unruhiger Schlaf voll rätselhafter, schrecklicher Träume.
Als er aufwachte, stand ein freundlich aussehender Mann im weißen Kittel neben seinem Bett und sah auf ihn nieder. Der Pfleger war bullig und machte einen gutmütigen, geduldigen Eindruck, – wie ein Polizist, der seit fünfundzwanzig Jahren sein Revier abtrottet und alle Bewohner beim Vornamen nennt.
»Möchten Sie ein Frühstück, Mr. Thompson?«
»Ja, gern«, antwortete Leroy.
»Käse, Wurst, gekochte Eier, Schinken?« fragte der Pfleger und lächelte.
»Schinken, bitte«, sagte Leroy.
»Nehmen Sie auch gekochte Eier. Mr. Thompson«, empfahl der Pfleger vertraulich. »Sie sind heute ganz frisch, und Schinken gibt es nur in kleinen Portionen. Sie sehen hungrig aus.«
»Sieht man mir das so deutlich an?« sagte Leroy. »Ich nehme an, ich habe Ihnen einige Umstände gemacht«, setzte er schuldbewußt hinzu.
»Nun, Sir. wir sind da um Ihnen zu helfen«, erklärte der Pfleger.
Er brachte einen Plastikteller und zwei Plastiklöffel.
Leroy lächelte schief. »Aha. Weder Messer noch Gabel. Man will wohl nichts riskieren …«
»Wir beachten gewisse Vorsichtsmaßregeln, Sir. Glauben Sie mir, es ist in Ihrem eigenen Interesse.«
»Ich verstehe, ich verstehe!« sagte Leroy eilig.
Er machte sich mit dem größten Appetit an das Frühstück.
»Kaffee oder Tee, Sir?«
»Kaffee, bitte.«
Der Kaffee kam in einer Plastiktasse.
»Wenn Sie sich wohl fühlen, Mr. Thompson, hätte Dr. Chalmers heute morgen gern mit Ihnen gesprochen.«
»O ja! Ich glaube, das würde mich sehr erleichtern, wenn ich mit dem Doktor sprechen könnte.« Leroy lächelte. »Und es geht mir soweit ganz gut.«
»Man sieht es Ihnen an, Sir.«
Offensichtlich stammten die Behandlungsmethoden in dieser Klinik nicht aus der gleichen Epoche wie das strenge, kalte viktorianische Gebäude. Obwohl die ungastlichen Ziegelmauern in einem Zeitalter entstanden waren, als die Behandlung für Geisteskranke darin bestand, sie für immer von der Welt abzuschließen und ihre Existenz zu vergessen, und obwohl die architektonische Anlage der Klinik eher an ein Gefängnis erinnerte als an eine Klinik, erfolgte die Behandlung Geisteskranker hier nach den modernsten medizinischen Erkenntnissen.
Chalmers war ein sehr großer, schlanker Mann mit einer Adlernase. Er hinkte – eine Erinnerung an den Krieg., »Möchten Sie, daß ich hierbleibe, Doktor?« fragte der Krankenpfleger freundlich.
Chalmers lächelte. »Danke, nein, Jenkins. Ich bin überzeugt davon, daß Mr. Thompson heute früh nur mit mir sprechen will. Das heute Nacht war eine Entgleisung, die uns allen einmal passieren kann …«
Thompson sog die Luft tief ein.
»Es tut mir aufrichtig leid wegen heute Nacht, Doktor«, sagte Leroy. »Ich habe Ihnen und Ihrem Personal gewiß Unannehmlichkeiten gemacht. Aber heute bin ich wieder vollkommen in Ordnung.«
»Es freut mich, das zu hören«, antwortete der Doktor. »Diese Dinge können nach einiger Zeit von selbst wieder vergehen, aber wenn man sich in diesem gewissen Zustand befindet, so ist es dennoch unangenehm für alle Beteiligten. Aber vielleicht sollten Sie von vorn anfangen und mir alles berichten …«
Dr. Chalmers lehnte sich zurück, legte Notizbuch und Kugelschreiber vor sich auf den Schreibtisch und wartete.
Leroy Thompson räusperte sich und fragte sich, wo nun wirklich der »Anfang« seiner Geschichte war. »Sehen Sie«, begann er. »Mein Büro ist in einer kleinen Provinzstadt im Norden von Norfolk, und ich wohne in Bayswater, London. Ich bin Architekt, Juniorchef einer Firma, die sich auf Restaurierungsarbeiten historischer Gebäude, besonders Kirchen, spezialisiert hat.«
»Interessanter Beruf«, warf der Doktor ein. »Bitte fahren Sie fort, Mr. Thompson.«
»Um den Heimweg abzukürzen, nehme ich manchmal die alte Römerstraße, die über das Moor führt. Es ist nicht viel mehr als ein Feldweg, doch erspart man dabei mehr als zwanzig Meilen.«
»Ich interessiere mich ein wenig für Archäologie«, lächelte der Doktor. »Ich kenne die Straße, die bereits von den Druiden benützt wurde, bevor die
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