0505 - Der japanische Geist
Gleichzeitig begann er zu zittern, die Gesichtshaut nahm eine andere Farbe an, sie bekam einen Stich ins Graue. Dann öffnete er den Mund und schickte mir ein fürchterliches Ächzen entgegen.
Der Laut schwang noch durch den Raum, als er sich vorbeugte und flach auf das Gesicht fiel.
Ich schaute auf seinen Rücken.
In der Mitte sah ich etwas aus ihm herausragen. Es war ein Schaft.
Die Spitze entdeckte ich nicht, sie steckte tief im Körper des Japaners, der möglicherweise tödlich getroffen war.
Von wem?
Ich hätte es längst wissen müssen, war aber noch zu durcheinander, um klare Gedanken fassen zu können.
Hinter dem Liegenden erschien eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, die eine Halbmaske trug, so daß nur die hintere Hälfte des Gesichts zu sehen war. Das lange, ebenfalls schwarze Haar umwehte sie wie ein Schleier. Die Kleidung lag eng um ihren schlanken Körper, als würde er in einem Etui stecken.
Die Person war eine Frau, und sie hielt in der rechten Hand die Waffe, mit der sie auch geschossen hatte – eine Armbrust.
Es war Shao!
Lautlos kam sie näher. Von mir wurde sie regelrecht angestaunt.
Ich konnte es noch immer nicht fassen, sie vor mir zu sehen. Auf ihren Lippen lag ein schwaches Lächeln. Die zur Armbrust gehörenden Pfeile steckten in einem Köcher. Sie hatte ihn auf ihrem Rücken befestigt. Die Schäfte der Pfeile schauten über ihre Schulter hinweg.
»Hallo John«, sagte sie leise und blieb neben Igeno stehen. »Es tut mir leid«, flüsterte sie weiter, »aber ich sah keine andere Möglichkeit, dein Leben zu retten.«
»Ja«, krächzte ich, »danke. Ist er… ist er tot?«
Shao nickte. Dann setzte sie sich mir gegenüber. Einer der beiden Sessel stand noch an seinem Platz. Wir schauten uns an. Mir brannten Fragen auf der Zunge, ich bekam sie einfach nicht heraus. Zuletzt hatten wir uns in einem alten Kloster im Himalaya gesehen, als wir das Erbe eines alten Shaolin-Priesters bekommen wollten, das Yakup schließlich erhalten hatte.
»Du sagst nichts, John?«
Ich schluckte meinen Druck in der Kehle herunter. »Es sind viele Fragen. Mir fällt nur eine läppische ein. Wie geht es dir?«
»Gut.«
Ich lächelte. »Das klang nicht überzeugend.«
»Aber ich existiere«, sagte sie.
»Das ist kein Leben, Shao.«
»Ich weiß.« Sie nickte. »Und ich weiß auch, daß Suko noch leidet, aber ich kann nichts daran ändern. Ich bin nun einmal eine Gefangene meines Erbes oder meiner langen Ahnenreihe. Ich habe die Position der Amaterasu übernommen.«
»Das ist mir bekannt. Wenn ich dich allerdings so anschaue, kommt mir der Gedanke, daß es dir früher, als du und Suko hier noch wohntet, bessergegangen ist.«
»Ja, wir waren glücklicher.«
»Gibt es kein Zurück mehr?«
»Es ist sehr schwer, John. Manchmal zu schwer. Ich habe es versucht, das schwöre ich dir, aber ich kann nicht. Zu viele Dinge sind inzwischen geschehen, ich muß auf der Hut sein. Ich bin tot und lebe gleichzeitig, das gleicht schon einem kleinen Wunder. Die Dämonentrommler haben es damals nicht geschafft, andere Kräfte waren stärker, ich wurde gebraucht und ich werde noch gebraucht.«
»Von Suko auch. Wir anderen vermissen dich ebenfalls sehr, Shao.«
Die Chinesin senkte den Blick. Möglicherweise schimmerten auch Tränen in ihren Augen, ich sah es nicht, weil sie zu Boden schaute.
»Vielleicht wird es mal eine Zeit geben, wo ich wieder zurückkehren kann. Wann das aber sein wird und ob überhaupt, kann ich nicht sagen. Auf mich warten zudem zahlreiche Aufgaben.«
»Du hast Suko auch gewarnt.«
»Ja, der japanische Geist ist zurück.«
»Wer ist es?«
»Ein alter Samurai, der gegen Amaterasu gekämpft hat. Er wollte sie stürzen und sich auf ihren Thron schwingen. Das liegt schon lange zurück, und er hat es nicht geschafft.«
»Er wurde auch nicht vernichtet.«
»Nein, das nicht. Er lebte weiter, er beherrschte eine gewisse Art von Magie, denn auf ihn hörten die Geister. Verstehst du das?«
»Bis jetzt noch nicht.«
»Sie gaben ihm Schutz. Er konnte sie beschwören. Und es gab einen Geist, der in den Legenden und Sagen als der Atemräuber bezeichnet wird. Sein Name ist Yomo-Zan.«
»Habe ich nie gehört.«
»Das glaube ich dir gern. Mit dem Namen dieses Geistes erschreckt man heute noch kleine Kinder und auch Erwachsene. Yomo-Zan war ein Riese. Er lebte auf einem Berg, den der Teufel geschaffen hatte. Um existieren zu können, saugte der Riese den Menschen den Atem aus. Er fing sie ein und
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