0527 - Der Grausame
Lächeln nimmt die Spannung. Es kann verzaubern und auch Vertrauen geben.
Noch immer sprachen sie kein Wort. Ich wurde von ihnen angestarrt und nickte.
»Bon soir«, sagte ich.
Flüsternd erwiderte das junge Mädchen den Gruß. Es trug ein dunkles Kleid und darüber einen wollenen Umhang, der einer Kutte glich. Das trug man zu dieser Zeit im Winter.
»Wer bist du?« wurde ich gefragt.
Ich hob die Schultern. »Ein Fremder. Mein Name ist John…«
»Es klingt seltsam…«
»In der Tat«, gab ich zu. »Aber ich bin nicht als Feind gekommen, versteht ihr? Ich bin euer Freund. Ich möchte euch helfen. Wer seid ihr? Verratet es mir.«
»Ich heiße Lisa«, erwiderte das junge Mädchen mit Flüsterstimme. »Das ist meine Mutter.«
»Und der Vater?«
»Er lebt nicht mehr. Er kam vor wenigen Wochen um, als er unter die Steine geriet.«
Ich begriff. »Beim Bau des Schlosses?«
»So ist es.« Lisa nahm ein Tuch und tupfte ihrer Mutter den Schweiß von der Stirn. »Alle müssen helfen, das Schloß zu bauen, sonst wird der böse Fluch uns töten.«
»Der böse Fluch?«
»Du kennst ihn nicht?«
»Nein. Wie ich dir schon sagte, bin ich ein Fremder. Ich komme aus einem anderen Land.«
Lisa hob warnend die Hände. »Wenn das so ist, dann flieh so rasch du kannst. Wer hier von den Häschern des Ariol Le Duc erwischt wird, muß Fronarbeit leisten. Jeder muß es tun, auch meine Brüder und ich. Die Mutter ebenfalls, sie brach aber zusammen, sie konnten die Lasten nicht mehr tragen, sie ist krank geworden. Die Lunge…«
»Was ist der böse Fluch?«
»Ariol Le Duc und seine Schergen.«
»Die Templer?« schoß ich eine Frage ab.
Lisa erstarrte. »Genau sie. Du kennst diese Gruppe?«
Ich hob die Schultern. »Ja, ich bin ihnen hin und wieder begegnet.«
»Er… er hat den Teufel gesehen, sagt man. Andere erzählen, daß er der Teufel ist, der böse Fluch eben. Wenn du ihn siehst, bekommst du es mit der Angst zu tun. Er ist einfach furchtbar. Er ist das Grauen, begreifst du das?«
»Ich verstehe…« Mein Blick fiel auf das Fenster, weil ich dort einen Schatten zu sehen geglaubt hatte. »Wie sieht er aus? Ist er ein normaler Mensch?«
»Ich verstehe dich nicht…«
»Sieht er aus wie der Teufel?«
»Er ist schrecklich. Er trägt Hörner. Er hat ein böses Gesicht. Sehr bleich, und der Blick seiner Augen strahlt eine furchtbare Grausamkeit aus. Das ist der böse Fluch. Wir kommen nicht gegen ihn an. Er will sich sein Haus bauen, er möchte, daß dieses Schloß ihm zu Ehren errichtet wird. Wer nicht das tut, was er sagt, der stirbt. Denn er hat Schergen um sich versammelt, deren Gesichter wir nicht kennen, weil sie Masken tragen.«
»Welche Masken?«
»Ledermasken. Nur Schlitze für die Augen sind frei. Peitsche und Schwert gehören zu ihnen. Den, der nicht mehr tragen kann, den peitschen sie voran. Das Grauen nimmt kein Ende. Wir gehören zu den Vergessenen. Ariol Le Duc wird seine Schreckensherrschaft errichten, das wissen wir genau.«
Ich legte die Stirn in Falten, dachte über das Gehörte nach und fragte: »Kann ich ihn oben auf dem Berg finden?«
»Nein!« rief die kranke Frau, und auch Lisa erschrak. Sie preßte eine Hand gegen die Brust.
»Du willst doch nicht dorthin?«
»Doch. Seinetwegen bin ich gekommen, und ich bin nicht sein Freund, das verspreche ich euch.«
»Was willst du von ihm?«
»Vielleicht will ich seine Tyrannei beenden!«
»Das schafft keiner.«
»Hat es schon jemand versucht?«
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Es gab da mal einen Mann, aber der wurde getötet. Man vierteilte ihn…«
Ich wußte Bescheid. Näheres brauchte sie mir nicht zu sagen. Lisa schaute mich an. Sie hatte sehr feine Züge, alles war weich geschnitten. Ihre Lippen wirkten so, als würde sie stets lächeln. Ein hübsches Mädchen, mit großen, eindrucksvollen Augen, deren Pupillen ebenso schwarz waren wie das lange Haar. »Bitte«, sagte sie leise. »Geh weg, Fremder. Verlasse dieses Gebiet. Hat man dich gesehen?«
»Ja, Menschen am anderen Ufer.«
»Wenn sie den Schergen Bescheid geben, wird man dich jagen und zur Fronarbeit zwingen.«
Ich winkte ab. »So leicht lasse ich mich nicht fangen. Aber reden wir von dir. Wer weiß, daß du bei deiner Mutter am Bett sitzt und sie pflegst? Hat man es dir erlaubt?«
»Nein, ich bin geflüchtet.«
»Wenn man dich nun faßt, was geschieht dann mit dir? Wird man dich ebenfalls töten?«
»So kann die Strafe ausfallen.«
»Das ist ein noch höheres Risiko. Bei
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