0544 - Der Bleiche
sie.
Etwas hatte sich verändert!
Mandy spürte die Haut auf dem Rücken, wie sie sich zusammenzog. Sie konnte nicht jeden Winkel ihres Wohnraums von dieser Stelle aus überblickten, aber sie ging davon aus, daß nichts mehr so war wie zuvor. Zwar standen die Gegenstände an ihrem Platz, auch die Anlage lief nicht mehr, aber innerhalb der vier schrägen Wände lauerte etwas.
Ein Geist, eine Aura?
Am ganzen Körper zitternd, machte sie den ersten Schritt in das Zimmer hinein, sah dabei nach links – und bekam Herzklopfen.
In einer Ecke stand eine Gestalt, die mehr einem bleichen Nebelstreif glich, wäre nicht der helle, wie von innen erleuchtete Schädel gewesen.
Der Kopf, der so aussah wie eine Halloween-Maske, stand auf dem Nebelstreif, als hätte man ihn dort angeklebt. Die Gesichtszüge hatten sich verändert, sie waren auf irgendeine Art und Weise länger und gleichzeitig fleischiger geworden, aber Mandy erkannte trotzdem, wer diese Person war oder einmal gewesen war.
»Luke Benson…« Mandy verstand ihre eigene Stimme kaum, so schwach war sie geworden.
Der Kopf bewegte sich nickend. Dann erfolgte die Antwort. Auch sie war nurmehr ein Zischen, und Mandy mußte genau hinhören, um sie überhaupt verstehen zu können.
»Hatte ich dir nicht versprochen, daß ich zurückkommen würde, kleine Mandy…?«
»Ja, das hast du. Aber…«
»Kein Aber. Ich bin da!«
Mandy wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie stand steif auf der Stelle, hatte die Arme vor ihren Körper gebracht und die Hände ineinander verkrampft.
»Du… freust dich nicht?« erkundigte er sich. »Du bist überhaupt nicht erfreut über meinen Besuch …?«
Mandy holte tief Luft. »Ich… ich …«
»Nicht stottern, Kind. Habe ich dir nicht gesagt, daß ich zurückkehren werde?«
»Schon, aber… ich habe es nicht geglaubt.«
»Ich halte meine Versprechen immer«, wisperte er.
Mandy nickte heftig. »Das… das habe ich jetzt gesehen. Ich bin nur so überrascht.« Ein helles Lachen flog ihr entgegen. »Komm her zu mir, ich will, daß du kommst!«
»Und dann?«
»Kannst du dich nicht an die Zeiten erinnern, die hinter uns liegen? Weißt du nicht mehr, wie ich dich besucht habe und wie du es nicht erwarten konntest?«
»Das war in einem anderen Leben!« stieß sie hervor.
»Ich bitte dich«, zischelte der Bleiche. »Vor meinem Tod hast du mir zwar nicht die Treue geschworen, aber du hast mir erklärt, daß du immer zu mir halten würdest. Egal, was auch geschieht. Das solltest du in deinem Interesse nicht vergessen.«
Mandy hatte die Warnung durchaus verstanden. »Ich wußte nicht, daß sich alles tatsächlich so erfüllen würde. Es tut mir leid.«
»Mir aber nicht, Mandy. Wenn du dich weigerst, bin ich leider gezwungen, meine Macht auszuspielen. Ich habe Macht, wie du dir vorstellen kannst. Es ist mir gelungen, das Jenseits zu verlassen. Wer kann das von sich schon behaupten?«
Da hatte er recht. Okay, als er noch lebte, hatte ihn Mandy gern empfangen. Es hatte ihr sogar Spaß bereitet, Kyra Benson an der Nase herumzuführen.
Nun sah die Sache ganz anders aus. Sie wußte nicht einmal, ob sie es mit einem Menschen, einem Toten, einem Lebenden oder einem Zwischending zu tun hatte.
»Begrüße mich richtig!« forderte er, »umarme mich. Komm in meine Arme.«
Mandy wußte, daß sie ihm nicht entwischen konnte. Es blieb ihr einfach keine andere Chance. Als sie auf die Gestalt zuging, zitterten ihre Knie. Sie wirkte wie eine ferngesteuerte Puppe, die sich dem Nebelstreif mit dem leuchtenden Schädel näherte.
Sie kam näher und spürte ihn. Er strahlte etwas ab, das sie streifte.
Vielleicht war es auch sein Atem, der ihr entgegenblies, ihre Haut umwehte und zu vergleichen war mit einer kalten Watte.
In dem Gesicht des Mannes rührte sich nichts. In dem Schädel, der wie ein ausgehöhlter und erhellter Kohlkopf wirkte, schien das Böse zu wohnen.
Jetzt berührte sie ihn.
Die Kälte erfaßte auch ihren Körper. Sie sorgte dafür, daß sich ihre Haut zusammenzog. Vor ihr schien ein Kühlschrank zu stehen, und doch war es nicht die gleiche Kälte, die man von ihm her kannte. Diese hier kannte keine Grenze, sie blieb nicht allein auf der Haut, sie kam auch von innen und zog das Mädchen in den Bann des Bleichen.
Obwohl er keine Arme besaß, überkam Mandy der Eindruck, als wären seine Hände überall. Ein Dutzend schien er davon zu besitzen, und sie glitten über ihn hinweg wie tastende Schleier. Sie waren einfach
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