0547 - Der Vampir-Gnom
direkt am Rand der Senke oder Mulde. An der anderen Seite ragten die Felsen hoch, und dort genau lagen, durch Büsche versteckt, die Eingänge zu den Höhlen.
Durch die eingelegte Pause gab ihr der Vampir unbewußt die Gelegenheit, über gewisse Dingen nachzudenken. Der alte Familienfluch kam ihr wieder in den Sinn.
Bisher hatte es eine Person aus jeder Generation getroffen. Weshalb hätte sich das ändern sollen? Einer mußte schließlich das Opfer sein. Da ihr Vater dafür wohl nicht in Frage kam und sie auch keinen Bruder besaß, blieb der Makel eben an ihr haften.
Das ärgerte sie so sehr, das drückte auf ihr Gemüt und steigerte auch die Furcht.
Einen seiner gorillahaften Arme hatte der Vampir um ihren Körper gelegt, um sie festzuhalten. Der Arm war wie eine Klammer.
Lisa hatte keine Chance, ihr zu entkommen.
Dann lief er weiter.
Er hatte es plötzlich noch eiliger. Seine Schritte wurden länger, er hüpfte fast wie ein Frosch. Man merkte ihm an, daß sein Ziel sehr nahe lag.
Über ihnen stand der Mond als stummer Begleiter. Er beleuchtete die schaurige Szene und streifte auch mit seinem Licht den verborgenen Eingang der Höhle.
Ohne sein Opfer von der Schulter zu lassen, drückte der Blutsauger die Büsche zur Seite und tauchte in die absolute Finsternis des Stollens. Hier brannte kein Licht. Nicht einmal eine Fackel gab ihren zuckenden und rußenden Schein ab.
Der Vampir kannte sich aus. Als Geschöpf der Finsternis konnte er auch im Dunkeln sehen.
Nur blieb es nicht dunkel. Lisa, die ihren Kopf trotz der für sie miesen Lage etwas angehoben hatte, erkannte ziemlich weit vor sich einen helleren Schimmer.
War es der Ausgang?
Sie konnte es nur hoffen. Andererseits stellte sie sich die Frage, was sie dort wohl erwarten würde.
Noch irrten sie durch den Stollen, in dem auch Ratten und Mäuse ihr Zuhause gefunden hatten. Das waren Tiere, zwischen denen sich auch der Blutsauger wohl fühlte.
Beinahe hätte sie sogar Fragen an den Blutsauger gestellt, dann fiel ihr ein, daß dieses Wesen ihr wohl keine Antwort geben würde.
Vampire sprachen nicht, sie gehorchten anderen Gesetzen.
Plötzlich waren sie frei. Alles lief so schnell ab, daß Lisa es erst merkte, als die muffige Luft des Stollens verschwand und sie die kühlere der Nacht einatmen konnte.
Es war einfach herrlich.
Sie fühlte sich zwar nicht wie neu geboren, aber die andere Luft vertrieb einen Teil ihrer Angst. Zwar überkam sie kein Hochgefühl, aber sie sagte sich, daß sie noch lebte, das zählte immerhin.
Der Vampir kippte nach rechts weg. Sie bekam auf einmal Angst, daß er sie zu Boden schmettern könnte. Er tat es glücklicherweise nicht. Bevor sie den Stein erreichte, fing er sie ab.
Aber sie blieb liegen, sah, daß sich der Blutsauger bückte und das Ende des Stricks hochnahm.
Die Flamme der Furcht durchfuhr Lisa. Wollte er sie letztendlich hier erwürgen?
»Bitte!« keuchte sie, und es waren ihre ersten Worte nach der Entführung. »Bitte, lassen…«
Er zerrte am Seil. Sie spürte die Schlinge um ihren Hals. In ihrer Panik schwang sie sich herum – und auf die Füße.
Dort blieb sie stehen!
Zitternd, schwankend, mit weit geöffneten Augen. Den Atem saugte sie schwer ein. Vor ihr stand Zumbra, der Zwerg. Viel kleiner als sie, aber er hielt das Seil fest.
Mit einer geschickten Handbewegung gelang es ihm, die Schlinge zu lockern. Lisa atmete wieder durch.
Der nächste Ruck bewies ihr, was er vorhatte. Er wollte sie zu einem bestimmten Platz hinführen.
Also noch einmal weg von hier – aber wohin?
Viel Auswahl hatte er nicht. Die Gegend hier war begrenzt. Vor ihnen bildeten die dunkel aufragenden Felsen eine unüberwindliche Mauer. Sie grenzten das Gebiet hinter dem Stollen ein. Lisa und ihr Vater hatten von diesem Areal nichts gewußt. Deshalb war darüber auch nicht gesprochen worden.
Ein geheimnisvolles Gebiet, möglicherweise nur Zumbra bekannt, der sich hier hatte ausbreiten können.
Lisas Angst war etwas zurückgedrängt worden. Sie freute sich darüber, daß sie lebte, auch wenn sie sich in der Hand dieses gefährlichen Blutsaugers befand.
Er führte sie ab. Sie kam sich vor wie ein Tier, das weggeschafft wurde. Dazu trug auch der Strick bei, der ihren Hals umspannte, ihr jedoch nicht die Luft abschnitt. Den stärksten Druck spürte sie im Nacken, nicht an der Kehle.
Die Unebenheiten des Bodens nahm sie mit großen Schritten. Es war einfach, hinter dem Gnom herzugehen, der sich nicht einmal umschaute. Von
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