0575 - Vampir-Gespenster
sich in gewisser Hinsicht auf seine Gefühle verlassen. Hier sagte ihm die innere Stimme, daß etwas nicht stimmte.
»Wer… wer sind Sie?« ächzte er.
»Ich heiße Richard!«
»Und weiter?«
»Nichts weiter.«
Mary Sinclair hatte es am Straßenrand nicht ausgehalten. Auch sie spürte, daß etwas nicht stimmte. Auf dem Bock redete nur der Mann. Seine Begleiterin saß stumm neben ihm, ohne ein Wort zu sagen. Sie wirkte wie eine Figur.
Der Wind fuhr gegen ihre Kleidung. Er bewegte sie ebenso wie den Schleier, ohne ihn allerdings vom Gesicht wehen zu können, dazu saß er zu fest. Selbstverständlich machte sich Mary Sinclair ihre Gedanken. War diese Person eine Mohammedanerin, die aus religiösen Gründen einen Schleier trug, oder hatte sie etwas zu verbergen. Vom Aussehen her stufte Mary sie als Südländerin ein.
Da die Frau keine Anstalten traf, Mary Sinclair anzusprechen, ging diese weiter und umrundete die beiden Pferde. Sie wollte bei ihrem Mann sein und bekam seine nächste Frage mit.
»Wie ist das mit meinem Sohn? Was wollte er? Woher kennen Sie ihn? Was hat er vor?«
Der Bleiche drehte sich – und trat zu!
Es war ein gemeiner, hinterhältiger Tritt, mit dem Horace nicht gerechnet hatte.
Die Schuhspitze hämmerte unter sein Kinn. Er hatte das Gefühl, in den Himmel gerissen zu werden, um dann jedoch gegen eine schwarze Wand zu fallen, die ihn aufsaugte.
Sie zog ihn in die Tiefe, aus der es kein Entrinnen gab. Daß seine Frau aufschrie, merkte er nicht, auch nicht, wie er zu Boden stürzte und regungslos liegenblieb.
Mary brauchte ihre Zeit, um die Überraschung zu verdauen. Sie starrte den Kerl auf dem Bock an und flüsterte: »Sind Sie wahnsinnig?«
Der Mann nickte nur.
Mary lief auf ihren Mann zu, kniete neben ihm nieder und hob seinen Kopf an. Daß sich das Holz des Bocks knarrend bewegte, nahm sie zwar zur Kenntnis, achtete aber nicht weiter darauf, denn Horace war ihr wichtiger. Beim Aufprall hatte er sich am Kopf verletzt. Eine kleine Wunde entließ Blut, das sich in den Haaren verteilte.
Sie war innerlich überdreht, wollte wieder hoch, da spürte sie den harten Druck einer Hand auf ihrer rechten Schulter. Diese Hand war wie ein Betonstempel.
»Du entkommst uns nicht mehr, Frau!«
Sie dachte über die Worte nach. Wieso sollte sie ihnen nicht mehr entkommen? Was hatte sie überhaupt getan? Sie kannte die beiden Menschen nicht, aber ihr auftauchen mußte indirekt mit John, dem Sohn, zusammenhängen.
Mary Sinclair hatte Mühe, die Worte zu formulieren. »Was… was soll das?«
»Du wirst jetzt aufstehen!«
»Und dann?«
Er zog sie hoch und half ihr auf die Beine. Mary warf einen Blick auf ihren Mann.
Meine Güte, wie blaß er aussah. Er lag da wie tot. Bleich und durchscheinend die Haut. Wie ein Mensch, der nie mehr auf die Beine kommen würde.
»Warum haben Sie es getan?« fragte sie leise. »Warum?«
Der Fremde schob sie weiter. Die Frau saß starr auf dem Kutschbock und kümmerte sich um nichts.
Mary Sinclair bemühte sich, nach anderen Menschen Ausschau zu halten, doch sie sah keinen. Niemand war da, der ihr hätte zu Hilfe kommen können. Das flache Gelände war menschenleer. Nur der Wind wehte darüber hinweg, er konnte ihr nicht helfen.
Sie schritten am Planwagen entlang und blieben an der Rückseite stehen. Die Ladekante war in die Höhe geklappt. Mary mußte sich recken, um darüber hinwegschauen zu können, aber sie sah auf der Ladefläche nichts. Die Plane hielt die Dunkelheit fest.
Hinter ihr war der Fremde stehengeblieben. »Was haben Sie denn mit mir vor?« fragte sie. »Wollen Sie mich entführen?«
»Das wirst du sehen.« Den nächsten Satz sprach er an ihr vorbei und in die Ladefläche hinein. »Ich habe sie.«
Sekundenlang geschah nichts. Dann bewegte sich etwas auf der Fläche. Mary Sinclair konnte nichts erkennen, sie hörte nur die Geräusche, die sie irritierten.
Etwas schabte, dann bewegte sich jemand, der sich gleichzeitig in die Höhe drückte.
Eine Gestalt…
Mary Sinclair konnte erkennen, daß es sich dabei um einen Mann handelte. Er war dunkel gekleidet, aber sein Gesicht sah sie schon, als er sich auf den Rand zuschob.
Ein helles Gesicht, nein, ein bleiches mit dunklen Augen und ebenso dunklen Haaren.
Der Mann öffnete den Mund. Er grinste und fletschte gleichzeitig die Zähne.
Aber nur deshalb, weil er seine beiden besonderen Zähne hervorheben wollte, die aus dem Oberkiefer wuchsen. Sie waren spitz und sahen gefährlich aus.
Für Mary
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