060 - Der Henker von London
heftig. „Das fragst du mich? Eben hat Dr. Tracy wieder nach mir gesehen und mir erzählt, wie er dich vorgefunden hat. Wie konnte das passieren, John?“
„Er sagt, ich soll mal ausspannen“, entgegnete ich und lächelte das Mädchen an, das gerade dabei war, meine herumliegenden Kleidungsstücke vom Boden aufzuheben. „Er meint, ich hätte mich überarbeitet.“
„Ich erwarte in ein paar Minuten den Anwalt meines Mannes“, sagte Claudia leise. „Danach würde ich gern zu dir kommen. Darf ich?“
Ich blickte auf meine zittrigen Finger, die kraftlos den Hörer umklammerten.
„Nein“, erwiderte ich schwach. „Ich möchte es nicht. Ich sehe furchtbar aus.“
Sie schwieg betroffen. „Ich werde trotzdem kommen“, sagte sie dann mit fester Stimme.
Ich starrte aus dem weitgeöffneten Fenster. Die Sonne schien verdeckt hinter den Wolken. Aber es war warm und trocken. Ein paar Vögel hüpften im Geäst des Ahornbaumes vor meinem Fenster.
„Es geht mir schon seit ein paar Tagen so“, sagte ich langsam. „Abends begannen die Schmerzen, und morgens wachte ich total erschöpft auf.“
„John?“
„Ja, Claudia?“
„Das Gesicht, die eigenartigen Dinge, die wir erlebten – glaubst du, es hat damit etwas zu tun?“
„Gesicht?“ Ich versuchte mich zu konzentrieren. „Von welchem Gesicht sprichst du?“
„Versuche dich zu erinnern“, flehte sie eindringlich. „So wie ich es versuchte und es schaffte. Du mußt dich darauf konzentrieren, John. Bitte, versuch es. Ich habe Angst, John, schreckliche Angst!“
Ein Gesicht? Ich schloß die Augen, dachte scharf nach. Wovon hatte sie nur gesprochen? Ein Gesicht, an das ich mich erinnern sollte? Und plötzlich, von einer Sekunde zur anderen riß der Vorhang des Vergessens, und ich sah es wieder vor mir. Schwach nur, ein Hauch meiner Erinnerungen, aber es war da. Ein lächelndes Gesicht. Das Gesicht eines Mannes. Irgend etwas war in diesem Gesicht, das mich an etwas anderes erinnerte. An eine Begebenheit vielleicht, an ein Wort, an einen Menschen?
„John?“
Ich öffnete wieder die Augen. Die Arzthelferin stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und starrte in den Garten hinunter. Die Vögel hüpften und sangen immer noch im Baum, die Welt war schön. Schön, weil es Claudia gab. Und Claudias Stimme. Und Claudias Lächeln. Und Claudias Hände.
„Ja, Liebling?“ sagte ich.
Ihre Stimme klang beschwörend, eindringlich: „Laß dich nicht treiben, John. Bitte, sieh die Gefahr, die uns mit jeder Sekunde mehr einspinnt. Ich spüre, daß etwas Entsetzliches auf uns zukommt, wenn wir nicht ständig auf der Hut sind. Du mußt dich zusammenreißen, John, hörst du! Ich glaube, es hängt alles mit diesem Gesicht zusammen, das wir beide gesehen haben. Ich kann nicht erklären, warum, aber ich glaube ganz fest daran. Wir müssen gegen diese unbekannte Macht kämpfen, John. Dürfen uns nicht treiben lassen. Deine Krankheit ist das erste Zeichen dafür, daß uns jemand zu schwächen versucht.“
Ja, ich erinnerte mich wieder. Ich hatte Stimmen gehört. Oder besser gesagt, eine Stimme. Auf dem Flur des Scotland-Yard-Hauses, hier und – und …
Da war die Sperre. Bis hierhin und nicht weiter! Soviel ich mich auch anstrengte, über die letzte Hürde kam ich nicht hinaus.
„Ja“, sagte ich leise. „Ich glaube, du hast recht. Aber warum sagst du immer ‚wir’? Ich bin es doch nur, der scheinbar geschwächt wird.“
Eine Weile war es ganz still. Dann flüsterte Claudia: „Heute nacht stand ich plötzlich im Bad. Ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin, John. Ich stand einfach da.“
„Vielleicht bist du Schlafwandlerin“, sagte ich, um sie zu beruhigen. Ich hörte ihren Atem.
„Nein“, erwiderte sie mit klangloser Stimme. „Ich stand vor dem Spiegel im Bad und hielt meine Hände über das Becken. Als ich erwachte, pulsierte Blut aus meinen Adern. Jemand hat mir die Pulsadern aufgeschnitten …“
Ich starrte zu meinem Waschbecken hinüber. Zufall, daß auch dieses
Becken mit Blut beschmiert war? Zufall, daß wir beide Stimmen hörten, Gesichter sahen und uns nur bis zu einem bestimmten Punkt zurückerinnerten?
„Komm ’rüber“, sagte ich rauh. „Den Rechtsanwalt soll meinetwegen der Teufel holen. Du bleibst keine Minute mehr in deinem Haus.“
Es klickte. Claudia hatte aufgelegt.
Um neun Uhr abends schickte ich Claudia und die Krankenschwester hinüber in Claudias Haus. Ich schärfte der Arzthelferin ein, gut auf Claudia
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