060 - Der Henker von London
blieb sie. Sie würde immer dort bleiben, für immer und ewig! Wie schön wäre es doch, im unklaren zu sein …!
Ich streute die staubige Prise zwischen meinen Fingerspitzen auf den Boden, wischte den Sitz von dem übrigen Glasstaub sauber und öffnete dann das Handschuhfach. Ich holte das kleine Taschendiktiergerät heraus, das unter der Bezeichnung elektronisches Notizbuch verkauft wird. Als ich mich wieder aufrichtete, spürte ich ganz unerwartet einen heißen, ziehenden Schmerz in meinem Rücken. Es kommt also wieder, dachte ich und hatte plötzlich einen galligen, bitteren Geschmack im Mund.
Arwanus hat mich nicht vergessen!
Ich schlug die Wagentür zu, eilte ins Haus zurück. Es gab noch einiges zu tun. Ich mußte das kleine Tonbandgerät fest an mein Bein binden; mußte es so einstellen, daß ich es, kurz bevor ich in das traumlose Jenseits hinüberschwamm, leicht einschalten konnte. Ich wollte alles aufnehmen und später das Band abhorchen. Vielleicht war es eine letzte Hoffnung darauf, daß mich sogar die Gewißheit betrogen hatte, aber auch ich hatte Arwanus nicht vergessen! Sollte er mich rufen, quälen, meinen Körper wieder mit Schmerzen peinigen! Ich würde tun, was er befahl. Würde töten, ja vielleicht sogar Blut trinken. Aber morgen früh würde ich mit dem Tonbandgerät erwachen!
Und dann gnade dir Gott, Arwanus!
Ich zog den Strumpf über das Gerät, das ich mir über den Fußknöchel gebunden hatte. Wieder war da dieser ziehende gemeine Schmerz in der Wirbelsäule und in den Gelenken. Ich spürte, wie das Blut hinter meinen Schläfen wild zu pochen begann, wie jeder Herzschlag schmerzte, meine Muskeln erstarrten.
Komm, Arwanus! Komm, sauge die Kraft aus meinen Knochen! Nimm mir meine Energie, den Lebenssaft, damit meine Muskeln zu ausgetrockneten Steinen werden! Ich warte auf dich!
Das Hämmern im Kopf nahm zu, wurde übermächtig stark. Ich glaubte, irgendwo in weiter Ferne mein Wimmern und Schreien zu hören. Wollte mich nach vorne krümmen. Das Gerät! John, du mußt das Gerät einschalten!
„Guten Abend, John …!“
Ein Gesicht in der Dunkelheit. Arwanus? Nein, das kann nicht der Henker sein! Ich kenne das Gesicht doch! Diese Züge, dieses Lächeln.
Die Schmerzen sind nicht mehr auszuhalten, treiben mich zum Wahnsinn. Alle Kraft zusammennehmen, John! Das Gerät! Denk an die Lösung, die Gewißheit!
Ich versuche an das Tonbandgerät zu gelangen, krümme mich wie eine getretene Natter, aber die entsetzlichen Schmerzen dulden keine Bewegung, keine Gewißheit.
Eine Hand vor meinem Gesicht. Sehr blaß, sehr zart, sehr zerbrechlich. Dann ein Gesicht, diese ewig lächelnde Fratze, die mich an etwas erinnert. Was war das noch? Ein Ereignis? Eine Person? Ich kenne den Mann, weiß und spüre, daß ich ihn kenne.
„Guten Abend, John“, flüstert etwas an meinem Ohr. „Komm zu mir, ich erwarte dich …“
Mit der inneren Kälte, die sich in mir verbreitet, lassen die Schmerzen wieder nach. Auch das Denken, das Bewußtsein. Es war doch noch irgendwas zu tun? Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber es fällt mir schwerer und schwerer.
Eis, Glas, Hülle. Was soll das? Keine Ahnung. Brust bläht sich auf. Von innen. Eis beginnt zu schmelzen. Da rollt es in der Brust …
„Ich komme, Herr!“
Da hat jemand gesprochen. Wer? Ja, wer?
„Du bist sehr stark heute, John.“ Diese Stimme kenne ich, mag ich. Sie klingt so sanft, so ruhig, so ehrlich. Und gut. Die Stimme schweigt, lacht dann leise. „Du mußt auch stark sein, John“, fährt sie dann fort. „Denn gerade jetzt brauche ich deine Kraft nötiger denn je. Der letzte Schritt ist schwer …“
„Ja, Herr!“
Das war wieder die andere Stimme. Rollend, dumpf klang sie. Ich muß über sie nachdenken. Über beide Stimmen muß ich nachdenken. Aber da kommt Schwärze, Nichts, Leere. Umhüllt mich wie ein Schleier, macht meine Gedanken träge. Nein, es gibt kein Entfliehen. Der Schleier ist zu dicht …
„Komm jetzt, John.“
Nichts. Nein, da ist gar nichts mehr.
Die Ohren hören es, leiten weiter. Knirschend erhebt sich die Gestalt und schlurft durch das Zimmer …
„John!“ Jemand brüllt meinen Namen. Ein- zweimal. Ich reiße die Augen auf. Doch es ist dunkel um mich. Finstere Nacht und plötzlich wieder eisige Kälte. Traum, nichts als ekelhafter Traum! Das Böse versucht mich zu erdrücken, mich zu beleidigen!
Ich kriege es zu fassen, lege meine Hände um seinen Hals, fühle, wie das warme Blut über
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