060 - Der Henker von London
Einigermaßen geht’s ja schon wieder. Und wenn ich am Abend noch so eine Spritze verpaßt kriege, kann ich morgen Fußball spielen. Aber es wäre nett, wenn Sie Claudia ’rüberschicken würden.“
„Sie – sie hat einen Schock bekommen, als sie hörte, wie schlecht es Ihnen geht. Ich hätte es lieber, wenn Sie beide sich heute mal richtig ausschlafen.“
Ich sah ihn scharf an. Er hielt meinem Blick stand, aber die Unruhe in seinen Augen war nicht zu übersehen.
„Doc!“ sagte ich heiser.
Er blickte zu Dan Reed, dieser lächelte gezwungen.
„Sie kann ja morgen kommen“, meinte er. „Dann geht’s euch beiden wieder besser, John.“
Herrje, was war ich doch für ein Trottel! Dan hätte mich vielleicht besucht. Dr. Tracy ganz bestimmt. Aber was suchte Dr. Hall hier? Nein, sie brauchten nichts mehr zu sagen! Ihre Augen verrieten alles.
„Wann?“ fragte ich heiser. „Ihr könnt es mir ruhig sagen.“
Dan schluckte.
„Dr. Hall meint, gegen vier Uhr heute morgen. Ich glaube, sie und ihr Mann haben den Onkel des Mannes getötet. Sie arbeitete früher in einer Apotheke. Vermutlich hat sie das Gift besorgt.“
„Nein!“ stieß ich hervor. „Sie hatte mit dem Mord nichts zu tun!“
„Das hat sie dir vielleicht gesagt, John. Aber das muß nicht stimmen. Nimm es nicht so tragisch. Sie war eine Mörderin.“
„Claudia …“, flüsterte ich unter Tränen. „Claudia, ich liebe dich …“
Sie waren fort. Alle. Die Stille im Haus tat wohl. Auch wenn sie den Tod beherbergte, das Grauen. Jetzt, wo Claudia tot war, konnte nur Stille und Frieden noch etwas bedeuten. Einmal läutete das Telefon. Als es verstummt war, kroch ich aus dem Bett, riß die Schnur aus der Steckdose. Nichts sollte die Stille mehr unterbrechen.
Ich schleppte mich hinunter ins Wohnzimmer, blieb erschöpft auf der Couch liegen. Hier hatten wir gestern gesessen. Wir werden es schaffen, hatte ich gesagt und sogar ein bißchen selbst daran geglaubt. Aber wir hatten es nicht geschafft. Der Wille des Henkers war stärker gewesen. Und auch der Wille seines Vollstreckers. Vielleicht hatte sie mich erkannt, als ich meine Hände um ihren Hals legte, vielleicht wußte sie, wer da auf ihr Bett zuschlurfte. Es muß ein furchtbarer Schock für sie gewesen sein.
Mir fiel ein, daß ich einen Traum gehabt hatte. Jemand schrie meinen Namen. Gellend laut. Ich hatte gezögert, dann aber zugedrückt. Unerbittlich und mit aller Kraft. Ich hatte den zarten, schönen Körper zerquetscht, weil ich das Böse aus ihm herauspressen wollte …
Traum oder Wirklichkeit? Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß wieder ein winziges Stückchen Erinnerung im Hirn des gläsernen Monstrums zurückgeblieben war. Wie die Sache mit dem Steinquader, den ich bisher nirgends entdeckt hatte.
Meine Güte, war ich denn wirklich schon in einem Dämmerzustand? Das winzige Kassettentonbandgerät an meinem Knöchel!
Mit bebenden Fingern nestelte ich an der Verschnürung des Gerätes, das immer noch unter meiner Socke an den Knöchel gebunden war. Endlich – hundert Ewigkeiten schienen vergangen zu sein – hatte ich es gelöst, starrte es hoffnungsvoll an. Es mußte einfach etwas darauf sein. Irgendein Hinweis, der mich auch dann zu Arwanus führte, wenn ich nicht von ihm gerufen wurde. Noch eine solche Nacht würde ich wahrscheinlich nicht mehr lebend überstehen! Ich mußte handeln; handeln, bevor mit der Dunkelheit die Schmerzen und mit den Schmerzen die Macht des Henkers über mich kam. Ich mußte ihn finden, vernichten, bevor ich noch einmal zum mordenden Monstrum wurde!
Das Band war durchgelaufen. Ganz schwach dämmerte es mir, daß ich mit allerletzter Anstrengung versucht hatte, den kleinen Knopf zu drücken, der das Band in Gang setzte. Ich hatte es geschafft. Erst in diesem Augenblick war es mir klar. Das Band war abgelaufen. Also mußte ich es auch eingeschaltet haben!
Ich war aufgeregt, nervös. Das Gerät fiel mir fast aus den Händen, als ich das Band zurückspulte. Lieber Gott, mach, daß es die Lösung bringt, flehte ich stumm. Ich muß Arwanus finden!
Klick. Das Gerät schaltete sich automatisch ab, als das Band zurückgelaufen war. Ich drückte den Startknopf. Es rauschte überlaut aus dem kleinen Lautsprecher, etwas schabte. Vermutlich war ich mit der Bettdecke über das eingebaute Mikrofon gekommen. Eine Weile rumorte es noch, dann hörte ich eine dumpfe Stimme sagen: „Ja, Herr!“
Wieder ein starkes Rauschen, das von der Bettdecke
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