0623 - Ein Tropfen Ewigkeit
dem Kopf nach unten, durch zwei Finger am Fuß gehalten. Sie schrie, während das Wasser über ihren Körper rann und die Tropfen in den See zurückklatschten.
Die Angst verdichtete sich zur Panik, die wie ein gewaltiger Druck in ihr hochschoß. Über dem Wasser schwebend hatte sie fast mit dem Leben abgeschlossen, sie sah die Fläche als einen tanzenden Teppich, der Wellen geschlagen hatte, und der Riese kannte mit ihr kein Pardon.
Er schleifte sie mit.
Dabei nahm er keine Rücksicht auf ihre Haltung. Den Kopf nach unten zerrte sie die unheimliche Gestalt über die Wasserfläche hinweg, und schon sehr bald veränderte sich der Grund. Melu sah kein Wasser mehr, sie schwebte über die Wiesen hinweg, sah unter sich das Geäst der blühenden Bäume und dachte daran, daß es wohl keinen gab, der ihr helfen konnte.
Für einen Moment erinnerte sie sich an den Schattenreiter. Er wäre der einzige gewesen, der ihr eine Chance gegeben hätte, aber Brân war nicht mehr da.
Es war für sie ein Fliegen über Avalon hinweg. Das Blut war längst in ihren Kopf geflossen, sie spürte den ungeheuren Druck an der Stirn, und sie hing auch nicht nur senkrecht mit dem Kopf nach unten, denn bei ihrer Reise pendelte sie hin und her, was das Gefühl des Schwindels noch vermehrte.
Zudem hörte sie die stampfenden Geräusche, wenn der Riese seine mächtigen Füße beim Gehen auf den Boden setzte. Dann kam es ihr vor, als würde der Untergrund vibrieren.
Was der Riese mit ihr anstellen würde, konnte sie nicht sagen. Jedenfalls rechnete sie mit einem Ende ihres Lebens, und das steigerte ihre Angst noch mehr.
Durch ihre Lage konnte sie nicht erkennen, wohin sich der Riese mit seiner Beute bewegte, aber der Boden blieb nicht mehr so saftig und grün. In Melus Blickfeld erschienen die ersten Schatten. Gewaltig und dunkel, dabei leicht glänzend wie Spiegel.
Die waren es nicht, sondern Steine. Sie konnte sich selbst sehen, wie sie zwischen den beiden Fingern des Riesen hing und von einer Seite zur anderen pendelte.
Längst war ihr schlecht geworden, und sie wünschte sich plötzlich ihr altes Leben zurück, auch wenn sie es nur als Blinde erlebt hatte.
Radikal änderte sich für Melu alles.
Der Riese hatte nur seine Hand zu schlenkern brauchen, um seinem Opfer eine andere Haltung zu geben. Melu verlor die Kopflastigkeit, die Kraft schleuderte sie in die Höhe, dann war auch der Druck der beiden Finger verschwunden.
Sie schwebte in der Luft, überschlug sich dabei und wäre auf dem Steinboden zerschmettert, hätte der Riese seine gewaltige Hand nicht ausgestreckt, um sie aufzufangen.
So landete das Mädchen auf dem Handteller. Stumm kippte Melu zurück, bis sie gegen einen Widerstand stieß. Sie konnte nicht sehen, daß der Riese seine Finger senkrecht gestellt hatte, um sie abzufangen. In dieser Haltung blieb Melu stehen.
Ihr kam es wie ein Wunder vor, daß sie noch lebte. Automatisch tastete sie ihren Körper ab. Sie schämte sich plötzlich wegen ihrer Nacktheit, aber es war noch alles vorhanden, nichts gebrochen oder geprellt. Der Riese war trotz allem noch behutsam mit ihr umgegangen, und das gab ihr irgendwo Mut.
Er wollte etwas von ihr. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sie Wasser aus Gesicht und Augen, weil sie etwas erkennen wollte.
Die gewaltige Gestalt neigte ihren Kopf. Zunächst kam es Melusine vor, als sollte sie von einem Schatten zerdrückt werden, dann kristallisierte sich das Gesicht der Gestalt heraus. Sie sah die graue Fläche, die kalten, etwas spiegelnden Augen, den Mund, den man nur mehr als Mund bezeichnen konnte, und Zähne, die ebenfalls wie Steine wirkten und alles zermalmten.
Melu zitterte vor Angst, nur konnte sie nicht fliehen, und es gab auch kein Versteck auf der Handfläche.
Über ihren Körper rann ein Schauer, der sich zu einer Gänsehaut verdichtete.
Die junge Frau bewegte die Lippen, ohne zu sprechen. Der Riese glotzte sie kalt an, und seine Augen besaßen nicht einmal Pupillen.
Die waren glatt wie Steine.
Melu kam allmählich zu Atem. Sie überwand ihre Furcht auch, war nahe daran, eine Frage zu stellen, als der Riese ihr abermals zuvorkam, die Hand, auf der sein Opfer stand, senkte und Melu vorsichtig wie eine feine Porzellanpuppe abstellte.
Der Boden unter ihr war glatt und strömte eine gewisse Wärme aus, die sie an ihren nackten Füßen spürte.
Melu riß sich zusammen und schaffte es, sich umzuschauen. Sie fand sich in einer Felslandschaft wieder, die auf sie den Eindruck machte,
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