0623 - Odyssee des Grauens

übrig sein. Da aber alles noch aussieht wie neu, bleibt für mich nur der Schluß, daß Kleidung und Personen eng miteinander verbunden sind. So wie die Personen nicht altern, altert auch die Kleidung nicht. Sie gehört mit zur Person, wurde mitgebracht, ist eine geschlossene Einheit. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ich versuche krampfhaft, mich dumm zu stellen«, brummte Zamorra. »Gelingt mir das?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Ich meine, daß die über Bord geworfene Kleidung nicht hätte weg sein dürfen. Wenn der eine Teil des geschlossenen Systems, der Mensch, das Schiff nicht verlassen kann, kann es der andere Teil, die Kleidung, auch nicht.«
    »Das ist aber ziemlich weit hergeholt«, sagte Zamorra.
    »Vielleicht. Ich möchte aber zu gern wissen, ob Roanas zerschlissene Klamotten nicht doch noch an Bord sind. Beziehungsweise wieder an Bord. Ich sehe das so ähnlich wie bei Ombres Amulett.« Sie tippte gegen die Silberscheibe, die zwischen ihren Brüsten lag. »Früher ist das verflixte Ding auf unerfindlichen Wegen auch immer wieder zu ihm zurückgekehrt, sogar, wenn er es verschenkte oder wegwarf - und jetzt sind wir es, die es ihm zurückbringen und damit wiederum dem Gesetz der Serie ein wenig nachhelfen… und ich denke, daß die Magie, die über diesem Schiff liegt, dieser Fluch, von dem niemand im Detail sprechen will, ähnlich arbeitet. Wenn ich mich nicht irre, werden Roanas Sachen in ihrer Kajüte liegen.«
    Zamorra ließ sich neben ihr nieder. »Du willst doch auf irgend etwas hinaus«, vermutete er.
    »Richtig. Entweder sind die Sachen wieder da, und nichts und niemand kann das Schiff verlassen. Oder - sie sind fort, und was der eine Teil der Einheit kann, kann der andere auch. Also gäbe es einen Weg, von Bord zu kommen.«
    »Immer vorausgesetzt, daß deine Theorie stimmt.«
    »Ja«, sagte sie träge. »Aber ich habe da noch eine Erweiterung. Kleidungsstücke können das Schiff nicht aus eigenem Willen verlassen, nicht wahr?«
    »Hm«, machte Zamorra. »Bei manchen Textilien habe ich immerhin schon den Eindruck gehabt, sie verfügten über einen eigenen Willen. Reißverschlüsse, die sich entweder nicht schließen lassen wollen, wenn sie sollen, oder sich dann von selbst öffnen, wenn sie es nicht sollen, oder Hemdknöpfe, von denen oft oben einer zuviel und unten einer zuwenig ist, oder Schnürsenkel an Schuhen, deren Knoten sich unmotiviert lösen, oder die sich nicht richtig fest verknoten lassen wollen… oder Hemden und Hosen, die über Nacht zu eng werden…«
    »Versuch doch mal, für ein paar Minuten ernst zu bleiben«, bat. Nicole. »Ich gehe mal davon aus, daß die Leute bisher alle immer versucht, haben, das Schiff zu verlassen.«
    »Ja, klar. Und was ist daran ungewöhnlich?«
    »Keiner hat es gegen seinen Willen verlassen, oder?«
    »Ach, Mädchen«, seufzte er. »Wer sollte denn schon an Bord bleiben wollen?«
    »Man könnte denjenigen ja über die Reling schubsen. Dann verläßt er das Schiff nicht aus eigenem Antrieb, sondern ungewollt. Zumindest in jenem Augenblick. Roana hat ihre Kleidungsstücke auch nicht gefragt, ob sie abheuern wollen, sondern sie einfach weggeworfen.«
    »Na schön«, sagte Zamorra. »Du denkst also, eine Fluchtmöglichkeit bestände darin, daß man sich über Bord werfen läßt.«
    »Endlich«, atmete sie erleichtert auf. »Dein krampfhafter Versuch, dich dumm zu stellen, war bisher wirklich sehr erfolgreich. - Genau das meine ich. Wer nicht aus eigenem Antrieb geht, sondern von Bord gezwungen wird, könnte davonkommen.«
    »Die Sache hat einen gewaltigen Haken«, sagte Zamorra.
    »Und wie sieht der aus?«
    »Verdammt krumm. Wenn wir uns alle gegenseitig über Bord stoßen, muß ja zwangsläufig einer als letzter Zurückbleiben. Und wer wird das sein wollen?«
    »Ich jedenfalls nicht«, sagte sie leise. »Du hast recht. Die anderen werden es auch nicht wollen, keiner von ihnen. Somit wird es an mangelnder Bereitschaft zur Mitarbeit scheitern. Keiner will der letzte sein. Also wird, statt zu helfen, jeder den anderen belauern und daran hindern, jemanden über Bord zu werfen, weil das die Auswahl verringert und jemand, der befürchten muß, allein zurückzubleiben, den anderen die Fluchtchance nicht gönnt…«
    »Ich wäre dafür jedenfalls zu egoistisch«, gestand Zamorra.
    Nicole sprang auf.
    »Ich habe eine Idee«, sagte sie.
    Zamorra legte eine Hand hinter die Ohrmuschel.
    »Wir zwingen die anderen dazu, uns ins Wasser zu werfen«, sagte sie.