0648 - Die Stunde des Ghouls
stand. Vor seinem karierten Hemd hing sein Amulett. Die Hände hatte er halb erhoben; er wirkte angespannt und etwas nervös.
»Hallo, Zamorra«, krächzte er heiser. »Hallo, Nicole.«
Die war hinter Zamorra in die kleine Wohnung gekommen und schleppte die Reisetasche mit sich herein. Offenbar lauerte keine unmittelbare Gefahr durch die Schwarze Magie auf sie. Weder Yves noch Angelique sahen aus, als würden sie magisch bedroht. Trotzdem signalisierte Zamorras Amulett immer noch eine dunkle Ausstrahlung.
»Was führt euch her?« wollte Yves wissen.
»Vielleicht die Frage, weshalb du einen Ghoul in diese Wohnung geschleppt hast!« fauchte Angelique ihn an. »Zamorra, Nicole - er muß den Verstand verloren haben! Könnt ihr euch das vorstellen? Da bringt dieser verdammte Narr einen ausgewachsenen Ghoul mit hierher! Hat ihn irgendwo in der Stadt einkassiert, und statt ihn umzubringen, wie er es sonst mit diesen Monstern tut, schleppt er ihn in meine Wohnung!«
»Unsere Wohnung«, korrigierte Yves lahm.
»Meine Wohnung!« konterte Angelique. »Du tust doch schon lange nichts mehr dazu. Du hast doch nur noch deinen Kreuzzug im Kopf. Ich schufte mich kaputt dafür, daß wir Miete, Strom, Wasser, Heizung bezahlen können und daß jeden Tag ein Happen Essen auf dem Tisch steht! Und du ziehst durch die Gegend und erschlägst Dämonen.«
Auch das war anders geworden. Einst hatte Yves für den Unterhalt seiner Geschwister gesorgt. Jetzt, da Angelique längst volljährig war, jobbte sie. Und Yves folgte nur noch dem Pfad seiner Rache.
»Ich hätte damals bei Julian bleiben sollen«, fuhr sie wütend fort. »Der war zwar genauso bescheuert wie du und wie alle anderen Männer…«
Nicole grinste Zamorra jungenhaft frech an. »Hör genau zu«, flüsterte sie. »Angie hat recht…«
»… aber ich wäre aus diesem Ghetto 'rausgekommen. Aber ich mußte ihn ja unbedingt vor die Wahl stellen, seine Arroganz und seine magischen Eskapaden, oder ich… und jetzt sitze ich hier und werde irgendwann eine fette, alte Matrone sein, während du noch Dämonen jagst, wenn ich dich im Rollstuhl zur Jagd fahre…«
»Sag mir nichts von Rollstuhl!« fuhr er sie an; seine Augen blitzten zornig.
Sie hatte einen wunden Punkt getroffen.
Maurice, ihr ermordeter Bruder, war Rollstuhlfahrer gewesen. Er war ein Contergan-Opfer gewesen, mißgebildet, ohne Beine geboren. Die geringe Entschädigung, die die Familie von dem für das Medikament verantwortlichen Pharma-Konzern erhalten hatte, war kaum mehr als ein schlechter Witz gewesen.
Aber das war jetzt alles vorbei. Maurice war tot, und Yves sann auf Rache.
»Was ist eigentlich mit dir und Julian?« mischte Nicole sich ein, um von dem Streit abzulenken.
»Nichts mehr. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen«, erwiderte Angelique spitz. »Andere Mütter haben auch hübsche Söhne. Er hatte seine Chance, hat mich gehen lassen -was soll's? Irgendwie bringt's nur Ärger, wenn man sich mit irgendwem näher einläßt, der mit Magie zu tun hat.« Wieder schoß sie einen Pfeil in Yves' Brust; einen unsichtbaren Pfeil aus ihren Augen, der ihn verletzte.
»Jetzt mach mal halblang, Mädchen«, sagte Nicole und nahm ihr die Bratpfanne aus der Hand. »Weißt du, wie du gerade aussiehst? Wie jemand aus einem billigen Slapstick-Filmchen. Hast du eine solche Show nötig? Glaub’ ich nicht. Sei froh, daß dich außer uns niemand so sieht. Sie würden dich auslachen. Also komm auf den Teppich zurück, auch wenn der gerade losfliegen will, ja? Was ist passiert? Was ist mit diesem Ghoul?«
»Yves hat ihn hergeschleppt.«
»Weshalb?«
»Da mußt du schon ihn fragen. Der ist doch völlig durchgeknallt!« Sie stürmte in ihr kleines Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Der Schlüssel knirschte.
»Tja, nun müssen wir schon dich fragen, Ombre,« sagte Zamorra trocken. »Weshalb hast du den Ghoul hergeschleppt?«
Der ›Schatten‹ starrte die beiden Überraschungsbesucher an. »Was soll das? Wieso seid ihr überhaupt hier? Doch nicht etwa wegen…«
»Wir sind auf Ghoul-Jagd«, erklärte Zamorra trocken.
»Dann verschwindet ganz schnell wieder. Meinen kriegt ihr nicht. Den brauche ich nämlich noch.«
»Und wofür?«
»Als Schlüssel…«
***
»Es gibt in Mexiko einen kleinen Ort, El Palmito. Dort hat sich eine ganze Schar von Ghouls versammelt. Dutzende müssen es sein. Und der hier gehört zu ihnen.«
Ombre hatte sich an den Küchentisch gesetzt, die Ellenbogen auf der Tischplatte und
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