0664 - Der Vampir von Denver
weiß ich nicht, ob ich es Ihnen sagen würde.«
Sie log nicht, das konnte Nicole erkennen. Allerdings war da noch etwas in ihren Gedanken, das Bild einer Holztreppe.
Nicole sah sich suchend um und wurde fündig. Im hinteren Teil des Geschäfts führte eine solche Treppe in das obere Stockwerk.
»Es tut mir leid, daß wir Sie so bedrängen müssen«, sagte sie entschuldigend, »aber wir müssen wirklich dringend mit Ihrem Chef sprechen.«
Während sie redete, vermittelte sie Zamorra telepathisch ein Bild der Treppe und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er unauffällig aus dem Gesichtsfeld der Chinesin trat und sich in den hinteren Teil des Ladens schlich.
Die Übermittlung war ein Risiko gewesen, das sie eingehen mußte. Normalerweise waren sie beide gegen fremde Telepathie abgeschirmt, aber mit einer kurzen Handbewegung signalisierte sie Zamorra, seine Abschirmung kurz zu öffne, so daß sie ihm das Gedankenbild zusenden konnte.
»Sehen Sie«, lenkte Nicole die Chinesin weiterhin ab, während Zamorra vorsichtig die Stufen zum ersten Stock hochstieg, »Fu Long ist vielleicht nicht der, für den Sie ihn halten.«
Jin Mei hörte ihr mit steigender Verwirrung zu. Nicole bedauerte, daß sie die Frau, die ihnen das Leben gerettet hatte, so behandeln mußte, aber sie hatte in Jin Meis Gedanken ihre Zuneigung zu Fu Long entdeckt und wußte, daß sie es ihnen nie erlauben würde, das obere Stockwerk zu durchsuchen. Dabei war sie, wenn sich der Vampir wirklich dort oben befand, in allergrößter Gefahr. Es war fast schon ein Wunder, daß sie noch lebte, obwohl sie sich einige Stunden mit Fu Long im gleichen Haus befunden hatte.
Um Zamorra machte Nicole sich keine Sorgen. Der wußte sich zu verteidigen, und er hatte schließlich das Amulett.
Sie konnte nicht ahnen, daß die Energiereserven der handtellergroßen Silberscheibe so erschöpft waren, daß sie Zamorra noch nicht einmal gewarnt hätte, wenn LUZIFER persönlich am Ende der Treppe gewartet hätte.
Dabei stand dort nur Fu Long.
***
»Wir müssen ein Ritual durchführen«, sagte Liu Qian eindringlich. »Wenn wir es nicht tun, wird er erwachen.«
Die beiden Männer hatten von dem merkwürdigen Ratten-Angriff gehört und sich in aller Stille in Changs Büro getroffen. Die Zwillingsbrüder Eric und John hatten sie nicht informiert. Die waren ohnehin nur bessere Befehlsempfänger.
William Chang schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Tee. »Er wird nicht erwachen, Qian. Kümmere dich nicht darum, was die Leute auf der Straße erzählen.«
»Du weißt genauso gut wie ich, daß niemand öffentlich über diese Dinge redet. Ich habe das nicht von irgendwem gehört, ich habe es in mir gefühlt.«
Chang schluckte. Auch er hatte das Aufbäumen des Dämons gespürt, die Veränderung in einem Jahrhunderte alten Rhythmus, den sie mittlerweile für selbstverständlich gehalten hatten.
»Er wird sich wieder beruhigen«, antwortete er unsicher.
Qian seufzte. »Du redest wie eine alte Frau. Es wird schon gut gehen, richtig? Wenn wir alle den Kopf in den Sand stecken, wird schon nichts passieren.«
Er lehnte sich vor. »Aber was ist, wenn es nicht gut geht, wenn wir den Kopf aus dem Sand ziehen und er vor uns steht? Dann wird unsere Arbeit und die unserer Ahnen umsonst gewesen sein. Kannst du dieses Risiko wirklich eingehen?«
Chang sah ihn einen Augenblick an und entschloß sich, ehrlich zu Qian zu sein.
»Was soll ich denn machen?« fragte er resigniert. »Selbst wenn ich das Ritual durchführen wollte, habe ich niemanden, der im richtigen Alter ist. Die Kinder sind alle noch so jung, daß sie dabei sterben würden, und es gibt keinen Erwachsenen, der noch nicht eingeweiht wurde. Das…«
»Jin Mei.«
»Was?«
»Du hast mich schon verstanden«, sagte Qian und strich sich mit der Hand über die öligen Haare. »Nimm das Mädchen.«
»Das kann ich nicht. Ich habe dem Vater mein Wort gegeben, daß ich nichts ohne sein Einverständnis unternehmen werde. Und dieses Einverständnis wird Chun uns nicht geben, da bin ich mir sicher.«
Chang bereute bereits seine Ehrlichkeit. In der Öffentlichkeit tat Qian so, als sei er Chang ergeben, dabei sägte er hinter verschlossenen Türen kräftig an seinem Stuhl und versuchte immer wieder, seine eigene Macht zu vergrößern.
Qian hob gleichgültig die Schultern. »Ist doch egal. Er wird nicht wagen, etwas zu unternehmen, wenn du das Ritual anordnest. Es steht soviel auf dem Spiel, daß wir uns um Kleinigkeiten wie
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