0677 - Das Haus der Hyänen
Fluch, der immer wieder zurückkehrt. Es müssen jeweils fünfzig Jahre vergehen, dann erscheint er wieder. So erzählen es sich die Menschen. Er lebte vor einigen Hundert Jahren, aber der Fluch lässt ihm keine Ruhe.«
»Und heute?«
»Ist es wieder soweit. Die Hyänen haben es mir gesagt. Er und sie bilden eine Einheit.«
»Wie kommt es, Olga, dass Sie sich so vortrefflich auskennen. Haben Sie sich mit dem blutigen Boris beschäftigt?«
»In der Tat.«
»Und weiter?«
»Ich bin Forscherin. Historikerin, kümmerte mich aber auch um die alten Legenden und Geschichten dieses Landstrichs. Darin wird die Sage vom blutigen Boris erwähnt. Eine Legende, die sich erfüllte, und ich habe mit alten Menschen gesprochen, die ihn schon einmal vor fünfzig Jahren erlebt haben. Er fällt in die Orte ein und holt sich seine Opfer, wie damals, als er noch lebte.«
»Das habe ich begriffen, Olga. Ich kann mir auch vorstellen, dass Sie auf ihn warten.«
Starr durch das Fenster schauend, gab sie mir die Antwort. »So ist es, John. Ich warte auf ihn. Und ich bin davon überzeugt, dass er in Kwitsche erscheinen wird. Die Nacht ist günstig. Der fast volle Mond, der Winter, der Schnee, und die Hyänen, seine Vorboten, die bereits eingetroffen sind. Sie haben es selbst erlebt, John.«
Ich dachte über ihre Worte nach. »Sie haben von Vorboten gesprochen. Sie rechnen damit, dass auch der blutige Boris erscheinen wird.«
»In dieser Nacht!«
»Und weiter.«
»Nichts weiter. Ich bin hier, um ihn zu erwarten, das ist alles, John. Ich warte auf ihn.«
»Sie haben keine Furcht?«
»Nein, die darf man nicht haben.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
Obwohl sie sich äußerlich ruhig gab, musste in ihrem Innern ein Vulkan toben. Da brannte ein Feuer der Rache. Ich hatte einfach den Eindruck gewonnen, dass sie erschienen war, um mit dem blutigen Boris abzurechnen.
Sie hatte die Schuhe gewechselt und winterfeste Stiefel angezogen.
Zuerst sah es so aus, als wollte sie vom Fenster zurücktreten, dann öffnete sie es mit einem Ruck.
Kälte strömte in den Raum und so gut wie keine Geräusche erreichten unsere Ohren. Der Schnee schluckte alles. Nur hin und wieder ein geheimnisvoll klingendes Knirschen, wenn irgendwelche Fußgänger durch den Schnee gingen und die Echos ihrer Schritte auch unsere Ohren erreichten. Die Luft stand zwischen den Häusern. Es war kein Wind vorhanden, der sie bewegt und die Kälte noch schlimmer gemacht hatte. Die grauen Fahnen stiegen senkrecht aus den Kaminen, drangen allerdings nicht besonders hoch, weil die Luft bereits drückte. Das schöne Wetter würde nicht mehr lange anhalten. Es roch nach Schnee.
Ich folgte der Bewegung ihres Zeigefingers. »Da, John, hören Sie. Die Hyänen sind da.«
Vielleicht hatte sie ein besseres Gehör als ich. Jedenfalls nahm ich erst jetzt das unheimlich klingende Heulen wahr, das sich wie eine Decke aus lauten Tönen über den Ort gelegt hatte.
Ich bekam eine Gänsehaut, denn ich hatte festgestellt, dass diese Laute nicht nur aus einer Richtung erklungen waren, sondern aus drei weiteren dazu.
Eingekreist…
Ich schluckte hart, als ich daran dachte. Plötzlich rann es kalt meinen Nacken hinab.
»Kann ich das Fenster wieder schließen?«
»Einen Augenblick noch.« Ich beugte mich vor, weil ich die Bestien sehen wollte.
Sosehr ich mich auch anstrengte, ich bekam sie einfach nicht zu Gesicht. Sie hielten sich in irgendwelchen Winkeln und Deckungen verborgen, die eines Menschen Auge nicht erreichen konnte. Wie mussten die Bewohner darüber denken?
Ich fragte Olga Schirnow danach.
Sie gab mir die Antwort, als sie das Fenster schloss. »Die Einwohner von Kwitsche wissen Bescheid. Sie haben sich daran gewöhnt, mit dem Fluch zu leben.«
»Mehr nicht?«
»Nein, das ist alles.« Mit einer gleitenden Bewegung drehte sie sich um, weil sie mir direkt ins Gesicht schauen wollte. »Ist Ihnen nichts aufgefallen, als sie nach Kwitsche kamen?«
»Nein, überhaupt nicht. Außerdem kenne ich mich in russischen Dörfern nicht aus. Auf mich wirkte diese Ansammlung von Häusern völlig normal, wenn ich das so sagen darf.«
Sie lächelte mokant. »Sorry, ich vergaß, dass Sie ein Fremder sind. Aber die Menschen hier haben Angst. Sie wissen, dass sie bald den Überfall erleben werden…«
»Und sind trotzdem geblieben?«
»Was sonst? Wohin hätten sie in dieser verfluchten, eiskalten Winternacht gehen sollen? Sie verbergen sich in den Häusern und hoffen, dass der Kelch an Ihnen
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