0682 - Das Geisterkind
rein war. Sie ist nicht nur ein unschuldiges Kind gewesen, sie hat auch bestimmte Voraussetzungen erfüllt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Millie ist ein Medium gewesen. Sie konnte spüren, dass es noch andere Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als nur die sichtbaren. Verstehen Sie jetzt?«
Kate hob die Schultern. »Das ist nicht einfach zu begreifen. Sie war schon komisch.«
Rami lachte. »Was Sie komisch nennen, Kate, dafür haben wir einen anderen Ausdruck. Wir nennen sie weise und weitsichtig. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die eine derartige Gabe besitzen. Man muss schon lange suchen, um sie zu finden.«
»Meinen Sie?«
»Ja, das können wir Ihnen schwören!«
Kate senkte den Kopf. Bisher hatte sie das Gefühl, als würde sie nur einen Traum erleben. Alles war Traum gewesen. Der Tod ihrer Tochter, der Besuch der beiden Fremden. Allmählich aber musste sie sich eingestehen, dass sie an ein Gebiet herangeführt worden war, von dem sie noch vor Stunden nichts gewusst hatte.
Jetzt glaubte sie daran.
Sie wollte auch hinschauen, denn sie spürte, dass es in den folgenden Minuten darauf ankam.
Als sie den Kopf hob, da umstanden Rami und Ray das Bett in Kopfhöhe. Der eine an der linken, der andere an der rechten Seite, und ihr Gesicht wurde vom Schein der beiden Kerzen gestreift, die einen geheimnisvollen Schleier auf die Haut legten und auch die Züge ihrer toten Tochter nicht ausließen.
Manchmal wünschte sie sich, dass sich Millie bewegte und einfach aufstand. Das wäre das Höchste für sie als Mutter gewesen. Sie hätte Millie immer bei sich behalten, sie wäre mit ihr irgendwohin gegangen, sie hätte sich um das Mädchen gekümmert und keinem etwas von seinem Zustand gesagt.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die beiden jungen Männer ihre Hände bewegten und sie von verschiedenen Stellen an die Stirnbänder heranführten, bis sie sich berührten.
Für einen Moment hielten sie inne, konzentrierten sich, und der Blick ihrer Augen nahm etwas Verlorenes und Suchendes an. So blieben sie stehen und ließen die Sekunden verstreichen, in denen ihre Konzentration stark anstieg.
Kate Foreman hatte noch zahlreiche Fragen auf der Zunge. Sie wollte sie nicht stellen, um die tiefe Ruhe nicht zu stören. Plötzlich passierte etwas.
Wie eine Gefangene kam sich Kate vor. Sie hatte ja schon gespürt, dass sich noch etwas innerhalb der vier Wände aufhielt. Nun verdichtete sich dieses Etwas, und es konzentrierte sich zudem an einem Punkt. Nicht in ihrer Nähe, sondern weiter davon entfernt. Genau dort, wo ihre Tochter lag und die beiden jungen Männer standen.
Über dem Kopf der Toten befand sich das Zentrum. Feiner Rauch strich über ihr Gesicht. Er war für Kate kaum sichtbar. Aber er war da, und die beiden jungen Männer berührten noch immer ihre Stirnbänder.
Das Gesicht des toten Kindes zeigte den Ausdruck einer Wachsmaske, in der der Mund weit offen stand. Das hatte sich auch jetzt nicht verändert, dieser Ausdruck blieb, nur kam in den folgenden Sekunden noch etwas hinzu, denn der dünne Rauch konzentrierte sich auf die Mundpartie. Er bildete zwischen den Lippen eine Insel, und dann sah es so aus, als würde die Tote anfangen zu würgen.
Kate wollte aufspringen, doch sie schaffte es nicht und umklammerte mit beiden Händen die Kanten der Sitzfläche. In dieser Haltung blieb sie auch und beobachtete weiter.
Etwas strömte aus dem Mund hervor. Es war weder Rauch noch Qualm, es roch nicht, es quoll auch nicht als Wolke hoch, sondern nahm sehr bald eine andere Form an.
Es war die Gestalt eines Menschen, die vom Mund wegwanderte und ihren Platz neben dem Bett fand.
Dort richtete sie sich auf.
Kate wollte ihren Augen nicht trauen. In der Kehle spürte sie ein hartes Brennen. Was sie nun erlebte, das konnte nicht wahr sein. Die Bänder auf der Stirn ihrer toten Tochter gaben ihre Energie ab, sie setzten sie um, und sie sorgten dafür, dass sich die geheimnisvolle Nebelgestalt am Bett verdichtete.
Es war Millie!
Weiß, bleich, durchscheinend. Ein Gespenst, für das es keine Hindernisse mehr gab.
Kate konnte nichts sagen. Sie bekam ihren Mund nicht mehr zu. Was sie da erlebte, war ungeheuerlich. Nur die tiefen, erlösenden Atemzüge der beiden Männer durchwehten das Zimmer, und dann kam der Kommentar.
»Wir haben es geschafft«, sagte Rami. »Ja, es ist uns gelungen. Wir haben die Grenzen und Welten übersprungen. Wir haben der Druidenkraft vertraut und sind nicht enttäuscht worden.«
Kate
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