0688 - Der Kult
Frühlingstag im April. Die Sonne meinte es gut mit London. Sie schien gegen die Dächer der Häuser, aber wo Licht ist, da gibt es auch Schatten.
Es kam auf den Winkel an, in dem die Sonne auf die Dächer schien. Danach richtete sich auch die Länge der Schatten, und gegen sie war ich momentan allergisch.
Ich hatte das Gefühl, daß sich jeder von ihnen bewegen und immer neue Figuren bilden würde, die uns verhöhnten und auslachten. Das war wohl nur Einbildung, hervorgerufen durch den harten Streß der vergangenen Minuten.
Auf dem Hof machten die Gaffer Platz, um den Notarzt durchzulassen. Begleitet wurde er von zwei Helfern, die eine Trage schleppten. Der Arzt war ein noch junger Mann. Er hastete die Stufen der Treppe hoch, nickte uns kurz zu und schaute dann auf den Schwerverletzten. Suko war einen Schritt zur Seite getreten, damit er den Arzt nicht behinderte.
»Mein Gott, was ist das?« flüsterte der Mediziner und wurde selbst bleich.
»Wir erklären es Ihnen später.«
»Wer sind Sie?« Seine Frage klang mißtrauisch.
»Scotland Yard.«
Da war er beruhigt.
Er arbeitete geschickt. Wir verließen die Plattform und traten zurück in die Wohnung. Durch die offene Tür konnten wir den Doc bei der Arbeit beobachten.
Leider gab es in dieser Bude kein Telefon. Ich hätte gern Sir James informiert.
»Es spitzt sich zu«, sagte Suko. »Und weißt du, welch ein Gefühl ich habe, John?«
»Daß dieser Schatten oder diese Schatten auf uns Jagd machen werden.«
»Du hörst keinen Widerspruch.« Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich daran dachte, und trat vor bis an die Schwelle.
Der Schwerverletzte lag bereits auf der Trage. Die beiden Helfer schleppten ihn weg.
Der Arzt ließ sich Zeit. Nachdenklich schaute er hinter den Männern her und schüttelte den Kopf.
»Haben Sie was, Doc?«
»Das war ein Schock, Mr. Sinclair, ein verdammter Schock. Ich bin mir nicht sicher, ob er durchkommen wird.« Er wollte es von mir genau wissen. »Mit welcher Waffe wurde er angegriffen?«
»Ich weiß es nicht. Mich würde es allerdings nicht wundern, wenn die Kollegen Spuren von Schafsoder Ziegenhaut an den Wundrändern finden, Doc.«
»Sie haben das wirklich gesagt?« Er ging einen Schritt zurück, als hätte er Angst vor mir.
»Sicher.«
»Sie hören dann von mir.« Er drehte sich um und verschwand kopfschüttelnd. Auf den Stufen hinterließen seine Tritte laute Echos. Sie kamen mir vor wie sein persönlicher Abgesang.
Das Pickelgesicht war zurückgeblieben. Er stand auf der Leiter und drückte sich gegen die Wand.
Dabei heulte er noch immer. »Du kannst auch verschwinden«, sagte ich.
»Und Socco?«
»Vielleicht hat er Glück.«
Das Pickelgesicht nahm den Ärmel, um seine Nase abzuwischen. Dann lief er weg. Es sah aus wie eine Flucht vor den Problemen.
Suko fand ich in der Wohnung. Er stand am Fenster und drehte mir den Rücken zu. Seine Arme hingen bewegungslos an beiden Seiten des Körpers herab. Die Handflächen waren nach außen gedreht, so daß die Hände wirkten wie offene Schalen.
»Wir müssen die Kulanis finden, John, wir müssen es. Sonst bahnt sich da eine Katastrophe an.«
»Die hat schon begonnen.«
»Wer killt mit Schafs- oder Ziegenhaut?« Er drehte sich um. Sein Blick forderte nahezu eine Antwort von mir.
Ich konnte sie ihm nicht geben, sprach nur ziemlich allgemein. »Wer immer es auch getan hat, Suko, aus unserem Kulturkreis wird er kaum stammen, nehme ich an.«
»Ja, das meine ich auch.«
»Java. Javanische Magie. Für mich ein Buch mit mehr als sieben Siegeln.«
»Ich habe mal nachgedacht«, sagte Suko. »Da waren die Überfälle, auch das Abschlachten der Tiere, die Morde. Alles hat System, als wäre es inszeniert worden.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Eben auf die Inszenierung.«
»Verstehe ich nicht.«
»Theater, John. Wie ein Theater, ein Schattentheater. Die Idee kam mir plötzlich, ich habe nicht einmal einen Hintergrund dafür, aber ich bin Asiate und sehe manches mit anderen Augen als ihr Europäer. Theater - Puppen, Marionetten, Schatten, Scherenschnitte, das drängte sich mir auf. Wir selbst haben den Schatten gesehen, als er in Richtung Hausdach entwischte.«
»Das stimmt alles. Nur sind die Puppen auf den Bühnen keine selbständigen Wesen. Sie gehorchen denjenigen, die sie halten. Da habe ich keinen gesehen.«
Suko hob die Schultern. »Könnte es nicht sein, daß sie sich selbständig machten?«
»Ja, das wäre eine Lösung. Nur schwer erklärbar.«
»Versuche es
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