0703 - Die Insel des Kopfjägers
mußte dann doch klettern, als der Strandstreifen zu schmal wurde.
Das Gestein war nicht glatt. Wasser und Wind hatten es im Laufe der Jahre porös werden lassen. Es gab genügend Lücken und aufgerauhte Stellen, an denen ich Halt finden konnte. Deshalb war es keine mühevolle Kletterei, die mich die Felswand überwinden ließ. Hinter ihr breitete sich ein flacher Hang aus, der nur noch leicht anstieg, und dann blieb ich stehen, vom Licht der Sonne gebadet, und ließ meinen Blick über die gesamte Insel schweifen.
Sie präsentierte sich wie auf einem Tablett. Ich dachte an die Luftaufnahme, die ich von Storm Island gesehen hatte, und wußte deshalb, wo und wie ich zu gehen hatte.
Das Haus war nicht zu übersehen, denn es bildete tatsächlich den Mittelpunkt der Insel. Für mich war es auch ohne Fernglas gut zu erkennen. Wie gemalt lag es unter den Strahlen der Morgensonne.
Stein, Holz und Glas - aus diesen drei Elementen war das Haus errichtet worden.
Die untere Hälfte war wie eine Mauer gebaut worden. Als Oval bildete sie das mächtige Fundament für die hellen Holzwände und die mächtigen Scheiben, in denen sich ebenfalls das Sonnenlicht wiederfand und sie so aussehen ließ wie einen Spiegel.
Im und am Haus rührte sich nichts. Es war noch unbewohnt, wie Dick angekündigt hatte. Er und seine Schwägerin würden später eintreffen. Bis dahin hatte ich mich auf der Insel umgesehen und sie durchforstet.
Den Vorsatz setzte ich augenblicklich in die Tat um.
Es spielte keine Rolle, aus welcher Richtung ich mit der Suche anfing. Ich entschied mich für die linke Seite und mußte zunächst einen großen Bogen schlagen.
Der Untergrund war nahe des Strandes noch felsig. Wenig später aber krochen die ersten Bodendecker hervor wie Moose und flache Farne. Sie wuchsen immer höher und verwandelten sich förmlich in ein trockenes Gestrüpp. Es bedeckte einen saftig aussehenden Grasboden, der nie gleich eben war, mal in kleinen Mulden verschwand oder auch Hügel bildete.
Dann sah ich die ersten Bäume.
Sie standen noch ziemlich isoliert. Zumeist waren es genügsame Nadelbäume, aber auch Birken reckten ihre schlanken Stämme in die Höhe. Der Wind spielte mit ihren Blättern. In den Strahlen der Sonne blinkten sie golden auf.
Unter den Bäumen hielt ich an. Nicht weil ich mich ausruhen wollte, sondern weil ich das zweite Haus dieser Insel entdeckt hatte. Ich kannte es bereits von der Luftaufnahme her. Es unterschied sich gewaltig von dem Prachtbau, der für mich unplaziert wirkte, im Gegensatz zu dem Haus, das sich in eine kleine Senke duckte, als wollte es Wind und Wetter trotzen.
Aus grauen Steinen war es errichtet worden. Die Wände standen schief, aber die Vorderseite, auf die ich schaute, wurde von mächtigen Holzstämmen gestützt.
Da gab es auch die Tür. Wer lebte hier?
Gut, den kleinen Hafen hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen, er lag auf der anderen Seite, und wahrscheinlich ernährten sich die Menschen hier vom Fischfang, denn Felder, auf denen etwas angebaut worden war, sah ich nicht. Dafür einen kleinen Nutzgarten, in dem sich zur Zeit aber niemand befand.
Ein Fischer, der hier lebte, der möglicherweise auch auf das teure Haus achtgab.
Aber wo steckte der Mann?
War er schon vor Anbruch der Morgendämmerung aufs Meer hinausgefahren, um nach Beute zu suchen? Obwohl ich diesen Menschen nicht sah, drehten sich meine Gedanken um ihn.
Hatte er eine Frau, eine Familie. Wenn ja, schliefen sie noch? Bei dem Wetter eigentlich nicht.
Auf mich jedenfalls machte dieses alte Haus einen irgendwo toten Eindruck.
Den ich allerdings überprüfen wollte.
Ich schaute mich um, bevor ich mich auf den Weg machte. Beobachtet wurde ich sichtbar nur von den über mir schwebenden Seevögeln, die sich aber nicht weiter um mich kümmerten.
Der Wind tat gut, sorgte für Erfrischung. Ich schritt über weiches Gras, das mir vorkam wie ein Teppich, der sehr federnd war.
Kein Laut war zu hören. Nur das Schreien der Seevögel mischte sich in das Rauschen der schon ziemlich entfernt liegenden Brandung. Ich ging den Weg bergab, erreichte den Schutz einiger Bäume und blieb vor dem schmalen Nutzgarten stehen, der durch einen schlichten Maschendrahtzaun eingefriedet war.
Kein Huhn gackerte, kein Hund bellte zur Begrüßung, keine Katze schlich neugierig heran.
Tot, es war alles tot hier…
Ich holte durch die Nase Luft. So wildromantisch die Insel für andere Menschen auch sein mochte, mir bereitete sie einfach
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