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0709 - Märchenfluch

0709 - Märchenfluch

Titel: 0709 - Märchenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timothy Stahl
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sein.
    Amory näherte sich ihm. Auf halbem Wege stieß er mit dem Fuß gegen etwas, das davonrollte.
    Eine Kerze.
    Bertie musste sie im Schlaf vom Pult gestoßen haben. Er konnte von Glück sagen, dass er das Haus nicht in Brand gesteckt hatte!
    Amory ging die letzten drei Schritte bis zu Bertie. Dabei bemerkte er etwas Klebriges unter seinen Sohlen, trocknendes Wachs vermutlich, das von der Kerze stammte.
    »Bertie«, flüsterte er dem Freund ins Ohr und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. »Wach auf, ich bin's!«
    Auch unter seinen Fingern spürte er jetzt etwas Klebriges, Warmes. Aber das war kein Wachs, konnte kein Wachs sein.
    Es wurde Amory schlagartig klar, was es war, als Bertie unter der leichten Berührung seiner Hand schwer zur Seite kippte und gegen ihn fiel. Reflexhaft fing Amory ihn auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten.
    Selbst im herrschenden Halbdunkel konnte Amory sehen, dass sein Freund einen entsetzlichen Anblick bot.
    Berties Gesicht existierte praktisch nicht mehr. Und in seiner Kehle klaffte ein Loch wie das zahnlose Maul eines Ungeheuers. Irgendetwas hatte Bertie den Adamsapfel herausgerissen!
    Irgendetwas… Ein fast komischer Laut entrang sich Amorys eigener Kehle, die ihm plötzlich so wehtat, als spüre er selbst jenen mörderischen Biss, der Bertie umgebracht hatte. Den Biss des Monsters, das er, Amory Stagg, erschaffen hatte!
    Wenn er auch nicht wusste, wie er das eigentlich getan, an welchen verbotenen Mächten er, ohne Absicht, gerührt hatte.
    Die Blättersammlung mit den handgeschriebenen Geschichten lag offen auf Berties Pult. Das Blut war schon angetrocknet. Amory schlug das Heft zu und nahm es mit spitzen Fingern hoch. Dann machte er sich davon, ein scheußliches Gefühl im Nacken und im Gedärm - ein Gefühl, dass er nie mehr im Leben ganz loswerden sollte, das ihm für immer anhängen würde wie ein Schatten, mal mehr, mal weniger sichtbar, aber stets da.
    Noch in derselben Nacht stahl sich Amory in den düsteren, engen Keller der Kirche seines Vaters hinunter und kratzte in einem der hintersten Winkel mit einem zersplitterten Brett ein Loch in den Lehmboden. Es war nicht sehr tief, aber es musste reichen. Angewidert warf er sein Journal hinein, schüttete es zu und trat den Lehm darüber fest.
    Er schwor sich, nie mehr hierher zu kommen.
    Ein Schwur, den Amory Stagg gehalten hatte.
    Bis heute.
    ***
    Eigentlich, dachte Lester Billings mit einer Nüchternheit, die ihn fast erstaunte, ist es ein Wunder, dass ich noch nicht übergeschnappt bin!
    Aber jetzt schien es, endlich, so weit zu sein!
    Jetzt schlug der Wahnsinn nach seinem Verstand wie etwas Lebendiges, um ihn zu zerfetzen mit Zähnen und Klauen, geifernd und brüllend…
    Genau wie das Ungeheuer, das ihm auf den Fersen war und sich seinen Körper vorknöpfen würde!
    In seiner eigenen Welt hätte Billings das Monster am ehesten noch für einen Wolf gehalten. Hier jedoch, wo immer dieses Hier auch sein mochte, galten andere Gesetze und womöglich auch andere Begriffe.
    Verstanden hatte Billings bislang nichts von allem, weder die Gesetzmäßigkeiten dieses Ortes noch irgendetwas anderes. Und am allerwenigsten, wie und warum es ihn hierher verschlagen hatte!
    Alles, woran er sich erinnerte, war, dass er sich vor der alten Kirche von Chip Osway getrennt hatte. Dann hatte ihn wieder jenes sonderbare Gefühl beschlichen, eine andere Umgebung als die eigentlich vertraute zu sehen.
    Nur war es diesmal nicht beim Sehen geblieben, und der Eindruck war auch nicht wieder verschwunden wie zuvor.
    Dafür aber war Fly Creek verschwunden.
    Billings hatte sich auf einmal - irgendwo befunden, nur nicht länger in seinem Heimatörtchen.
    Aber damit hatten die Seltsamkeiten erst begonnen. Was folgte, dafür hatte Billings bis jetzt noch keine Worte gefunden, die den Dingen auch nur annähernd gerecht geworden wären.
    Und so, wie es jetzt aussah, blieb ihm kaum noch Gelegenheit, nach den passenden zu suchen.
    Hatte seine neue Umgegend erst noch ganz vage an seine ureigene erinnert, war die Szenerie mit jedem Schritt, den er tat, unwirklicher geworden.
    Zeit, Entfernungen und dergleichen schienen nicht mehr zu gelten. Stand Billings im einen Moment noch inmitten eines Waldes, wie er nirgendwo auf Erden wuchs, fand er sich im nächsten und nur eine Schrittlänge weiter in einem Dorf, wie es sie im Mittelalter in Europa gegeben haben mochte, mit morastigen Straßen und strohgedeckten Häusern, die teils auf Pfählen errichtet waren und

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