0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
schaute in das untere Bett, wo Dagmar lag. Sie schlief tief und fest, hatte sich dabei zusammengerollt wie ein Embryo.
Elohim erreichte den Boden. Er blieb stehen. Tief durchatmen, dann weitergehen.
Die Tür war von innen verschlossen worden. Er mußte einen Riegel drehen und erschrak über das schnappende Geräusch, das dabei entstand. Es war aber nicht so laut, um Dagmar zu wecken, und sein schnell gewordener Herzschlag beruhigte sich wieder.
Er legte die Hand auf die kühle Klinke, wollte sie nach unten drücken, als er hinter sich das Flüstern vernahm: »Wo willst du denn hin, Kleiner?«
Dagmar war wach! Elohim duckte sich, als wäre er bei einer verbotenen Tätigkeit ertappt worden.
Auf seinem Nacken spannte sich die Haut. Obwohl die Antwort so einfach war, fiel sie ihm schwer.
»Ich… ich muß mal zur Toilette.« Er ärgerte sich darüber, daß er dabei anfing zu stottern.
»Tatsächlich?«
»Ja, Dagmar.«
»Soll ich dich begleiten und vor der Tür warten?«
»Nein, bitte nicht. Ich… ich habe auch keine Angst mehr, Dagmar.«
»Dann ist es gut.«
Elohim atmete auf. Nach Dagmars Antwort fühlte er sich plötzlich wie erwachsen, und er war froh darüber, es endlich geschafft zu haben. Er hatte die Fessel abgestreift.
Niemand hielt ihn auf, als er den Gang betrat. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er vergessen hatte, seine Schuhe anzuziehen. Es machte nichts. Er wollte nicht mehr zurück. Der Gang war mit Teppichboden ausgelegt worden.
Eine schaukelnde und sich bewegende Stille nahm ihn auf. Der Zug fuhr durch die Nacht, die aussah wie ein tiefschwarzer Tunnel. Wenn Elohim aus dem Fenster schaute, sah er kaum ein Licht.
Allerdings waren schwarze Buckel zu erkennen, die Berge, die das Rheintal überragten. Er sah auch den Strom, ein breites Band, sich träge bewegendes Band. Der Himmel war düster. Kein Mond sandte sein Licht auf den Planeten Erde. Es schien nur den Zug zu geben und damit auch den schmalen Gang, an dessen rechter Seite die geschlossenen Abteile lagen. Sie wirkten wie eine lange Wand.
Auch von dem Zugbegleiter war nichts zu sehen. Er hatte seinen Platz im vorderen Teil des Wagens. Vielleicht war er eingenickt.
Die Toilette lag an der anderen Seite. Das grüne Licht leuchtete Elohim entgegen. Für ihn ein Zeichen, daß der kleine Raum nicht besetzt war. Er erreichte ihn unangefochten, öffnete die Tür, peilte zuerst hinein. Niemand hielt sich dort versteckt.
Elohim verschwand.
Die Tür zerrte er zu, schloß ab, schaute hinter einen Vorhang und sah die Dusche. Auch sie war leer.
Er ließ sich Zeit. Nach dem Wasserlassen wusch er sich die Hände und schaute sich im Spiegel an.
Sein Gesicht sah grau aus. Es wirkte verschlafen, übermüdet, sogar gealtert.
Elohim spritzte Wasser in sein Gesicht. Es erfrischte ihn kaum, vertrieb auch nicht die Müdigkeit.
Dann ging er weiter. Die nassen Hände hatte er zuvor mit einem Papierhandtuch abgetrocknet.
Wieder schaute er in den Gang hinein, der leer vor ihm lag. Nichts hatte sich verändert. Die Türen waren auch jetzt geschlossen, so daß sie eine glatte Front bildeten.
Die Deckenleuchten gaben nur einen schwachen Schein ab. Er reichte jedoch aus, um alles erkennen zu lassen.
Er spürte mit jedem Schritt, daß sich trotzdem etwas verändert hatte. Die eigene Abteiltür kam ihm plötzlich sehr weit vor. Leichte Kopfschmerzen waren wie ein Warnsignal. Etwas tat sich in seiner Nähe, ohne daß er es sah!
Dennoch war nichts zu sehen. Auch außen vor den Scheiben nicht. Da lag nur die Nacht.
Elohim ging jetzt schneller. Er wollte so rasch wie möglich wieder in sein Bett. Dort fühlte er sich doch sicherer als hier in dieser leeren und feindlichen Umgebung.
Es geschah, als Elohim das Nachbarabteil soeben passiert hatte und schon nach der Türklinke fassen wollte. Ein leises Geräusch ließ ihn herumfahren.
Die Tür dicht vor ihm war offen. Eine Hand erschien.
Er wollte schreien.
Die Hand war schneller.
Wie eine dicke Würgeschlinge umschlang der Arm seine Kehle…
***
Elohim dachte an seine Vorwarnungen. Er sah wieder das Bild des Mannes auf dem Bonner Bahnhof. Den langen Mantel, den Schlapphut, unter dem kein Gesicht zu sehen war.
Und jetzt hatte er ihn.
Es gelang dem Jungen nicht zu schreien. Selbst ein röchelnder Laut drang nicht aus seiner Kehle. Er blieb stumm und dachte daran, daß Dagmar ihm jetzt nicht helfen konnte.
Der Mann war brutal. Er zerrte ihn durch die Öffnung in den kleinen Raum. Dann schleuderte er ihn auf
Weitere Kostenlose Bücher