0757 - Das Reich der Großen Schlange
doch kurz davor, handgreiflich zu werden.
»Hältst du mich für einen Idioten?«, knurrte er. »Diese Kräfte sind nichts anderes als die Energien der Großen Schlange! Du hast selbst zugegeben, dass du dieser Kreatur dienst! Und dann entführst du eine Frau, die offenbar eine Gegnerin deines Herrn ist? Woher weiß ich, dass du Nicole Duval nicht einfach ermordet hast?«
Tief in seinem Inneren spürte Zamorra schon, dass Nicole lebte. Es gab einfach ein unsichtbares starkes Band zwischen den beiden. Jeder von ihnen hätte sofort bemerkt, wenn dem anderen etwas Ernsthaftes zustieß.
Aber er wollte den Schamanen aus der Reserve locken.
»Ich finde, wir sollten den Dreckskerl doch lieber ertränken.« Nun gab auch noch Oleg wieder seinen Senf dazu. »Wir kommen doch sowieso nicht mehr nach Hause! Oder glaubst du, dass wir diese seltsame Welt noch einmal verlassen? Ich nicht!«
»Was du glaubst, ist mir piepegal!« Zamorra schüttelte den Schamanen. »Ich will jetzt endlich wissen, was du mit Nicole Duval gemacht hast!«
»N… nichts, wirklich. Ich habe sie in den Wäldern aus den Augen verloren. Kurz, bevor das Feuer vom Himmel fiel. Und ich habe sie aus dem Zug geholt, weil ich damals noch verblendet war. Ich suchte nach einer Verbündeten. Denn ich hatte zu der Zeit noch vor, selbst gegen die Große Schlange zu kämpfen.«
Mit diesem. Geständnis hatte der Dämonenjäger nicht gerechnet. Er war so verblüfft, dass er Thaagu losließ. Allerdings so abrupt, dass dieser umkippte und plötzlich im Sand saß.
Sollte der Schamane wirklich die Seiten gewechselt haben? Möglich oder denkbar war so etwas. Zamorra hatte schon oft erlebt, dass ursprüngliche Dämonenbekämpfer den Verlockungen des Bösen erlegen waren und nun der Dunklen Seite dienten. Manchmal kam freilich auch der umgekehrte Fall vor, wenn auch seltener.
»Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sprichst, Thaagu«, sagte Zamorra schließlich. »Aber für mich steht fest, dass du einen sehr schlechten Tausch gemacht hast.«
»Wie kannst du das sagen!«
»Überleg doch mal, Thaagu. Als Schamane hattest du eine mächtige, angesehene Stellung bei deinem Volk. Du kanntest einige kosmische Geheimnisse, wie ich annehme. Jedenfalls hast du verschiedene Zaubereien beherrscht, die du hier vergeblich ausüben wolltest. Wir sind außerdem nicht dort, wo du uns hinhaben wolltest. Du siehst besser den Tatsachen ins Auge. Die Große Schlange hat dir deine Fähigkeiten genommen!«
»Nein, ich… Du lügst, Zamorra! Die Große Schlange wollte mich zum größten Schamanen von ganz Sibirien machen! Sie wollte mir neue Fähigkeiten verleihen, statt mir meine bisherigen zu nehmen!«
Der Dämonenjäger lachte freudlos. »Die-Versprechungen eines Erzdämons! Warum sollte man ihnen vertrauen?«
»So wie der Zar!« Oleg wollte auch gerne mal wieder etwas sagen. »Dieser brutale Unterdrücker verspricht dem geknechteten Volk auch stets das Blaue vom Himmel herunter.«
Der Zar war dem Dämonenjäger herzlich egal.
Allein schon deshalb, weil sich in diesem Moment die Burgtore öffneten!
Zamorra stand mit Blick auf die Ritterburg, während der Schamane und der Anarchist ihr den Rücken zugekehrt hatten. Daher konnten die beiden nicht sehen, was Zamorra nun vor Augen hatte.
Eine Kriegerschar in blitzenden Rüstungen kam aus der Festung geritten und galoppierte direkt auf Zamorra, Oleg und Thaagu zu.
Wenigstens, dachte Zamorra mit düsterem Humor, wissen wir nun , dass diese Welt nicht unbewohnt ist…
***
In-Vanavara war die Hölle los.
Der kleine Handelsposten bestand nur aus wenigen Häusern. Eine richtige Stadt gab es in der ganzen Tunguska-Region nicht, und auch die Dörfer existierten nur zeitweise, wie Nicole inzwischen von Lena erfahren hatte.
»Die Tungusen sind eben Nomaden, Nicole«, erklärte die Russin. »Sie ziehen mit den Jahreszeiten und der Futterlage für ihre Rentiere. Vanavara ist sozusagen der letzte Außenposten der modernen Zivilisation.« Einen Moment später fügte sie ironisch hinzu: »Wenn man mal von dem Straflager Nr. 252 absieht.«
Als die beiden Frauen sich den wenigen Hütten von Vanavara näherten, starrten ihnen Gewehrläufe entgegen. Doch gleich darauf wurden die Waffen gesenkt.
»Alles in Ordnung!«, rief eine männliche Stimme. »Ich habe Lena Kuslowa erkannt, die Zobeljägerin! Sie hat noch eine andere Frau bei sich, die ich nicht kenne, aber jedenfalls ist sie kein Schlitzauge in Uniform!«
Die Stimme ließ ein nervöses Lachen
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