0758 - Mörder aus der Spiegelwelt
befand. Ein Rätsel war ihm jedoch die Tatsache, dass er offensichtlich noch lebte! Warum? Eine bessere Gelegenheit konnte sich sein Gegner doch überhaupt nicht wünschen, als dem bewusstlosen Zamorra das Licht auszublasen, ohne dass von dem eine Gegenwehr kommen konnte.
Wie auch immer …, Zamorra seufzte und öffnete vorsichtig die Augen.
Die Helligkeit fiel durch große Fenster in den Raum, in dem er ausgestreckt auf dem Boden lag. Das Zimmer war vollkommen leer, kein Stuhl, kein Tisch - nichts. Dennoch benötigte er keine zwei Sekunden, um zu wissen, wo er sich hier befand. Der Zuschnitt des Raumes war so ungewöhnlich und ihm dermaßen geläufig, dass es keinen Zweifel geben konnte. Das hier war sein Büro im Nordturm des Château Montagne!
Ich glaube, wir hätten die letzten Rechnungen doch besser bezahlen sollen. Zamorra versuchte der bizarren Situation mit Sarkasmus und Selbstironie zu begegnen. Wenn er tatsächlich im Château Montagne war, dann doch sicher in der Version in der Spiegelwelt. Zumindest hoffte er das, denn er hing an seiner nicht eben preiswerten Büroausstattung mit all ihren Hightech-Spielzeugen.
Mit einer seinem Brummschädel angemessenen Geschwindigkeit erhob Zamorra sich und ging zu einem der Turmfenster. Er sah auf den Vorplatz des Châteaus, mit dem Brunnen und den rechts liegenden Garagen. Und er sah das Tor mit der Zugbrücke, hinter dem sich die Serpentinenstraße hinunter ins Dorf wand - wenn es sie denn dort gegeben hätte!
Doch sie war nicht da, ebensowenig wie der blaue, oft auch regengraue Himmel, den Zamorra unzählige Male von diesem Fenster aus beobachtet hatte. Da war kein Himmel im ursprünglichen Sinn, sondern eine grüngraue Masse, die sich bis zum Horizont wie ein schmieriger Deckel über der Erde wölbte, über und über durchsetzt von schmutzigen Flecken und schwarzen Schlieren. Das sah aus, als hätte ein Kleinkind mit seinen unbeholfenen Fingern über eine frisch gestrichene Leinwand gekratzt. Ja, der Vergleich schien Zamorra recht treffend zu sein.
Mit Schaudern betrachtete er den Horizont, an dem sich ein mächtiges Gebirge zum Himmel wölbte. Die Berge jedoch schienen zu leben, sich um sich selbst zu winden, und bei genauem Hinsehen konnte Zamorra erkennen, dass sie an Amöben erinnerten, milchig weiß, glitschig…
Welches kranke Hirn hatte sich das hier ausgedacht?
»Welches kranke Hirn hat sich das hier ausgedacht?«
Zamorra wirbelte herum und musste sich am Fensterbrett festhalten, denn so ganz hatte er sich von dem Angriff des Mannes noch nicht erholt, der jetzt hinter ihm stand und die Frage gestellt hatte - Pierre Robin.
»Wohin, zum Teufel, hat dieser Wahnsinnige uns gebracht?«, wollte der Chefinspektor wissen. »Wenn du mir das wohl beantworten könntest, Zamorra?«
***
Es waren zwölf Türen, sechs auf jeder Seite des Ganges.
Am Kopfende des Korridors, der sich als Sackgasse entpuppt hatte, lag eine Art Büro oder Wachraum, wie man es auch nennen wollte.
Die Spiegelwelt-Nicole wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser, denn die Tatsache, dass auch dieser Raum mit keinem Beamten besetzt war, roch mächtig nach einer Falle für sie. War die ganze Aktion, die mit dem Tod Zamorras geendet hatte, vielleicht tatsächlich nur eine einzige Showeinlage gewesen, um die ungebetenen Gäste aus der Spiegelwelt zu narren?
Ihr Zamorra hatte wohl so etwas geahnt. Und es würde Nicole nun wirklich nicht wundem, wenn er sie eiskalt in diese Falle tappen ließ. Sie wusste ziemlich genau, was sie von ihm zu halten hatte - und er von ihr!
Sie waren kein wirkliches Paar, keine Lebensgefährten und erst recht kein aufeinander eingespieltes Team, wie das bei Zamorra und Nicole dieser Welt der Fall war. Sie waren eine Zweckgemeinschaft, nichts weiter. Nicole wusste, dass der Spiegelwelt-Magier sie nur neben sich duldete, weil er ihren Verstand und ihre Skrupellosigkeit schätzte. Sicher, ab und an schliefen sie noch miteinander, aber jeder holte sich sein Vergnügen auch bei anderen Partnern. Nicole wusste, dass Zamorra dabei oft nicht fragte, ob das Objekt seiner derzeitigen Begierde damit auch einverstanden war. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem er Nicole nicht mehr brauchte. Auf diesen Tag musste sie sich vorbereiten, musste bereit sein, denn dann hieß es blitzschnell und eiskalt reagieren.
Sie verdrängte die Gedanken. Jetzt war anderes angesagt. Auf dem Schreibtisch in dem kleinen Büro lag eine Art Klemmbrett. Und darauf war eine Liste befestigt,
Weitere Kostenlose Bücher