0763 - Strigen-Grauen
von mir entfernte, obgleich sie auf ihrem Platz sitzenblieb. Sie baute eine Distanz zu mir auf, schaute mich hin und wieder an, ohne mich allerdings sehen zu können.
Ich beobachtete Helen Kern und konzentrierte mich auch auf ihre rechte Wange, wo die Wunde noch immer unter dem Pflaster verdeckt war. Die Verfärbung der Haut war nicht weiter fortgeschritten, und ich hoffte stark, daß wir den Höhepunkt erreicht hatten. Sicher sein konnte ich mir nicht.
Die Zeit verging rasch. Ich merkte es an der Wanderung der Sonne, die sich in westliche Richtung bewegte. Wir saßen bereits im Schatten, ein anderer Teil des Zimmers war lichtdurchflutet.
»Geht es Ihnen gut, Helen?« fragte ich.
Schweigen.
»Geht es Ihnen gut?«
Sie schwieg auch jetzt.
Ich wußte nicht, wie ich sie aus ihrer Starre hervorholen sollte. Nur zu gern hätte ich ihre Gedankengänge verfolgt. Meiner Ansicht nach mußte sie sich in einer fremden Welt befinden, die nur für sie sichtbar war. Auf ihrer Oberlippe glänzte ein dünner Schweißfilm. Tropfen reihte sich an Tropfen. Sie wischte ihn nicht weg.
Dann bewegte sie sich plötzlich. Es waren keine normalen Bewegungen. Sie schien sich zu kratzen.
War sie erwacht?
Ja, sie schaute mich an. Ein tiefer, langer Blick aus dunklen Augen traf mich.
Ich lächelte.
Helen gab das Lächeln nicht zurück.
Ein Teil ihres Ichs befand sich noch in der anderen Welt.
»Geht es Ihnen gut?« wiederholte ich meine Frage.
Sie stand auf.
Ich blieb sitzen. Mit ungelenken Bewegungen ging sie durch das Zimmer, dabei wurde sie von mir beobachtet. Sie betrat das kleine Bad, schloß die Tür nicht hinter sich zu. Ich hörte das Rauschen des Wassers und wartete ab.
Schon sehr bald kehrte Helen zurück. In einer ziemlich großen Distanz zu mir blieb sie stehen. An ihrem Haaransatz über der Stirn schimmerten noch Wassertropfen. »Ich bin müde«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich bin sehr müde.«
»Das kann ich verstehen.«
»Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich hinlege?«
»Hier und jetzt?«
»Nein, nicht hier. Ich möchte nach oben ins Schlafzimmer, wo mein Bett steht.«
»Sie sind die Hausherrin, und ich kann Ihnen dabei keine Vorschriften machen.«
»Ja, das stimmt. Aber ich meine, werden Sie noch bei mir bleiben? Hier in der Wohnung?«
»Das hatte ich Ihnen versprochen, Helen.«
»Sie warten hier unten?«
»Keine Sorge, ich werde Sie nicht enttäuschen.«
»Danke«, flüsterte sie. Dann strich sie durch ihr Haar. »Es ist spröde«, sagte sie leise. »Es ist so spröde, John. Ich weiß auch nicht, was da passiert ist. Es fühlt sich an wie trockenes Gras, es hat sich verändert - komisch.«
Ich wollte ihr beistehen und sagte: »Vielleicht bilden Sie sich das auch nur ein.«
»Auf keinen Fall. Ich kenne doch mein Haar« Ihre Lippen zuckten, dann wischte sie über die schweißnasse Stirn. »Es ist sowieso alles anders geworden, John. Ich habe mich verändert, mein Leben hat sich verändert…«
»Was macht die Wunde?« fragte ich.
Damit hatte ich sie auf ein Thema gebracht. Sie hob den rechten Arm und tippte mit der Spitze des Zeigefingers gegen das Pflaster. »Ich spüre sie noch, John. Sie ist da, sie lebt auch, in ihr ist etwas, das ich nicht erklären kann. Sie zuckt und ›tuckert‹.«
»Wie wäre es denn, wenn wir sie von einem Arzt untersuchen ließen, Helen?«
Hastig trat sie einen Schritt zurück. Sie sah aus, als hätte ich ihr etwas Schlimmes gesagt. »Kein Arzt, um Himmels willen, keinen Arzt. Das ist allein meine Sache.«
»Er könnte dafür sorgen, daß zumindest die Schmerzen gelindert werden.«
»Ich habe keine Schmerzen«, erwiderte sie schnell. »Nein, ich spüre sie nicht.«
»Vorhin sagten Sie etwas anderes.«
»Aber das sind keine Schmerzen. Nicht in dem Sinne.« Bei Helen nahm die Nervosität zu. Sie stand zwar auf dem Fleck, bewegte sich trotzdem, rieb die Hände gegeneinander.
Mir war klar, daß mit Helen etwas passierte. Ich hätte ihr auch gern geholfen, wußte jedoch gleichzeitig, daß ich auf erheblichen Widerstand stoßen würde. Deshalb ließ ich sie in Ruhe und sagte nur:
»Sie müssen es wissen. Wenn Sie jedoch Hilfe brauchen, Sie wissen, wo Sie mich finden können.«
»Natürlich. Bleiben Sie hier unten?«
»Ja.«
»Ich bin dann oben«, erklärte sie stockend und kratzte sich dabei am Rücken. Die Haut schien zu jucken, was mich wiederum mißtrauisch machte. Möglicherweise hatte ihr mein Blick nicht gefallen, denn plötzlich hörte sie auf, sich zu
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