08 - Ehrenschuld
Vielmehr kaufte die Firma selber täglich bestimmte Aktienbestände, von denen sie glaubte, das sie in den Handel kommen würden, und wartete dann ab, ob sich Kaufinteressenten fanden.
Beim Ankauf von größeren Blöcken konnte man einen gewissen Mengenrabatt mitnehmen, und beim Verkauf wurde in der Regel ein etwas höherer Preis erzielt. Die Handelshäuser verdienten auf diese Weise an der »mittleren« Position, in der Regel ein achtel Punkt. Ein Punkt war ein Dollar, ein achtel Punkt somit zwölfeinhalb Cent. Das schien eine winzige Gewinnmarge zu sein, wo doch manche Aktien mit einem Wert von Hunderten von Dollar notiert wurden, aber wenn sie Tag für Tag bei einer Unmenge von Wertpapierverkäufen anfiel, kamen, wenn alles gutging, mit der Zeit gewaltige Profite zusammen. Aber nicht immer lief alles gut, und es konnte vorkommen, daß die Häuser riesige Verluste machten, wenn der Markt schneller nachgab, als sie vermutet hatten. So manche geläufige Wendung warnte vor diesem Phänomen. In Hongkong, wo ein reger Umsatz herrschte, sagte man, der Markt gehe »rauf und runter wie ein Fahrstuhl«, doch die grundlegende Formel wurde allen eingehämmert, die in der großen Computerhandelsabteilung von Merrill Lynch an der Lower West Side anfingen: »Nimm niemals an, daß es für das, was du verkaufen möchtest, einen Käufer gibt.« Doch natürlich gingen alle von dieser Annahme aus, weil sich immer ein Käufer gefunden hatte, jedenfalls so weit, wie das kollektive Gedächtnis der Firma zurückreichte, und das war ziemlich weit.
Doch in der Regel wurde der Handel nicht mit individuellen Anlegern getätigt. Seit den 1960er Jahren hatten Investmentfonds nach und nach die Kontrolle über den Markt übernommen. Sie wurden »Institutionen« genannt und unter diesem Titel zusammengefaßt mit Banken, Versicherungen und Pensionsfondsverwaltern, und genaugenommen gab es an der New Yorker Börse mehr derartige Institutionen als handelbare Wertpapiere, als wenn die Jäger zahlreicher wären als das Wild, und die Institutionen kontrollierten schier unbegreifliche Geldmengen. Sie waren so mächtig, daß ihre Entscheidungen sich stark auf einzelne Werte und für kurze Zeit sogar auf den gesamten Markt auswirken konnten, und in vielen Fällen wurden die Institutionen von nur wenigen Personen kontrolliert, in manchen Fällen sogar von nur einer einzigen.
Die dritte und größte Welle von Verkäufen von US-Schatzwechseln kam für jeden überraschend, doch am meisten überrascht war die Zentrale der Bundesbank in Washington, deren Mitarbeiter die Transaktionen in Hongkong und Tokio zur Kenntnis genommen hatten, im ersten Fall mit Interesse, im letzteren mit einer gewissen Beunruhigung. Der EurodollarMarkt hatte die Dinge wieder ins Lot gebracht, aber dieser Markt war jetzt weitgehend geschlossen. Jetzt ging es um eine ganze Reihe asiatischer Banken, die ihren Diskontsatz nicht an Amerika, sondern an Japan ausrichteten und deren Techniker ebenfalls das massive Angebot bemerkt und in der Region herumtelefoniert hatten. Diese Anrufe waren in einem einzigen Raum im obersten Stockwerk eines Büroturms eingegangen, wo sehr hochgestellte Bankenvertreter den Anrufern sagten, sie seien zu nachtschlafender Zeit hergerufen worden und auf eine Situation gestoßen, die ihnen sehr bedenklich erschien, womit sie die zweite Verkaufswelle auslösten, und die den Anrufern empfahlen, sich behutsam und geordnet, aber schnell aus dem Dollar zurückzuziehen.
US-Schatz Wechsel waren die Schuldeninstrumente der amerikanischen Bundesregierung und zugleich der wichtigste Damm zum Schutz des Werts der amerikanischen Währung. Schatzanweisungen, kurz T-Bills genannt, galten seit fünfzig Jahren als die sicherste Anlage der Welt, und sie gaben amerikanischen Bürgern wie auch anderen die Möglichkeit, ihr Kapital in ein Wertpapier zu stecken, das die mächtigste Volkswirtschaft der Welt repräsentierte, die ihrerseits geschützt wurde vom mächtigsten Militärapparat der Welt und reguliert wurde von einem politischen System, das Rechte und Chancen in einer Verfassung niedergelegt hatte, die alle bewunderten, auch wenn sie sie nicht immer ganz verstanden. Trotz aller bekannten Fehler und Mängel Amerikas waren die Vereinigten Staaten seit 1945 das einzige Land der Welt, wo Geld relativ sicher war. Amerika besaß eine ursprüngliche Vitalität, aus der alle starken Dinge erwuchsen. Bei all ihrer Unvollkommenheit waren die Amerikaner zugleich das optimistischste
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