08 - Ehrenschuld
darauf setzte der Sprengkopf einen aufgeblasenen Ballon frei, der
ihn nahe an der Wasseroberfläche hielt. Von der Takuyo war inzwischen ein
Boot unterwegs, das sich die Leine schnappen sollte, so daß die Nutzlast
geborgen und ihre aufgezeichneten Daten analysiert werden konnten.
»Es wird wohl sehr schwierig, nicht wahr?« fragte Barbara Linders. »Ja, das stimmt.« Murray wollte sie nicht anlügen. In den beiden letzten
Wochen waren sie sehr vertraut miteinander geworden, sogar vertrauter als
Ms. Linders zu ihrer Therapeutin stand. Jeden Aspekt des sexuellen
Übergriffs hatten sie in dieser Zeit mehr als zehnmal besprochen, jedes
Wort war aufgenommen und abgetippt worden, jede Tatsache zweimal
geprüft, und das war so weit gegangen, daß man die Farbe der Möbel und
des Teppichbodens im Büro des ehemaligen Senators anhand von Fotos
überprüft hatte. Alles hatte gestimmt. Gewiß, einige Diskrepanzen hatte es
gegeben, aber nur wenige und alle von untergeordneter Bedeutung. Die
Substanz des Falles berührten sie nicht. Doch das alles änderte nichts daran,
daß es sehr schwierig werden würde.
Murray führte die Ermittlungen in seiner Eigenschaft als persönlicher
Vertreter von Direktor Bill Shaw. Murray hatte achtundzwanzig Beamte
unter sich, darunter zwei Inspektoren von der Zentralabteilung, und alle
übrigen waren erfahrene Männer in den Vierzigern, die aufgrund ihrer
Fachkenntnisse ausgewählt worden waren (außerdem war ein halbes
Dutzend junger Beamter für die Kleinarbeit dabei). Als nächstes stand eine
Besprechung mit einem Vertreter der Bundesstaatsanwaltschaft auf dem
Programm. Sie hatten sich schon jemanden ausgeguckt, nämlich Anne
Cooper, neunundzwanzig, promovierte Juristin von der University of
Indiana, die sich auf sexuelle Gewalttaten spezialisiert hatte. Sie war eine
elegante, hochgewachsene Frau, schwarz und entschieden feministisch, und
sie stürzte sich mit solcher Leidenschaft in derartige Fälle, daß der Name
des Angeklagten ihr völlig schnuppe war. Das war der leichtere Teil. Dann kam der schwere Teil. Der besagte »Angeklagte« war der
Vizepräsident der Vereinigten Staaten, und laut Verfassung konnte man ihn
nicht behandeln wie einen normalen Bürger. In seinem Fall würde der
Justizausschuß des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten die
Anklagejury sein. Nach den Buchstaben des Gesetzes würde Anne Cooper
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mit dem Ausschußvorsitzenden und seinen Ausschußmitgliedern kooperieren, doch praktisch würde sie den Fall allein betreiben, wobei die »Hilfe« der Ausschußleute darin bestehen würde, sich groß in Szene zu
setzen und Einzelheiten an die Presse durchsickern zu lassen. Der Feuersturm würde losbrechen, erklärte Murray langsam und ruhig,
wenn man den Ausschußvorsitzenden von dem Bevorstehenden informieren
würde. Dann würden die Anschuldigungen öffentlich bekannt werden; das
war aufgrund der politischen Dimensionen unausweichlich. Vizepräsident
Edward J. Kealty würde empört alle Anschuldigungen abstreiten, und seine
Verteidiger würden ihrerseits Nachforschungen über Barbara Linders in
Gang setzen. Sie würden die Dinge herausfinden, die Murray schon von ihr
selbst gehört hatte, darunter viele, die zu ihrem Nachteil ausgelegt werden
konnten, und man würde der Öffentlichkeit nicht erklären, daß
Vergewaltigungsopfer, vor allem solche, die das Verbrechen nicht
anzeigten, ihre Selbstachtung völlig einbüßten, was sich oft in abnormem
Sexualverhalten äußerte. (Nachdem sie gelernt hatten, daß Sex das einzige
war, was man von ihnen wollte, stürzten sie sich oft in eine hektische
sexuelle Aktivität, aus der sie vergeblich das Selbstwertgefühl zu gewinnen
erhofften, das der erste Angreifer ihnen geraubt hatte.) Barbara Linders
hatte das getan, hatte Antidepressiva genommen, hatte ein halbes Dutzend
Jobs und zwei Abtreibungen hinter sich gebracht. Daß dies ein Resultat
ihrer Viktimisierung und nicht ein Indiz ihrer Unzuverlässigkeit sei, würde
man vor dem Ausschuß zu beweisen haben, denn wenn die Sache erst
einmal allgemein bekannt war, würde sie sich nicht verteidigen und sich
nicht öffentlich erklären können, während es den Anwälten und Ermittlern
der Gegenseite völlig unbenommen sein würde, sie so brutal und
hinterhältig zu attackieren, wie es Ed Kealty getan hatte, nur eben in aller
Öffentlichkeit. Dafür würden schon die Medien sorgen. »Das ist nicht fair«,
sagte sie schließlich. »Barbara, es ist fair. Es ist notwendig«, sagte
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