0813 - Der Schrecken vom Mekong-Delta
Kampfgebiet.
»Wenn du einen Soldaten siehst - lauf weg, so schnell du kannst!«, hatte ihm seine Mutter seit frühester Kindheit eingebläut. Denn sie wusste, dass das Auftauchen von Soldaten in ihrem Dorf nie etwas Gutes bedeuten konnte.
Wenn du einen Soldaten siehst - lauf weg, so schnell du kannst! Sie selbst hatte sich an diesen Rat leider nicht gehalten. Eines Tages war eine Sondereinheit in ihr Dorf gekommen, um nach einem feindlichen Sender zu suchen. Sie hatten nichts gefunden, doch die Soldaten standen unter Druck. In den letzten Tagen hatte »Charlie« viele ihrer Kameraden getötet, und ihre Vorgesetzten erwarteten dringend Erfolge. An diesem Tag entluden sich Angst und Ernst in ungezügeltem Hass. Die Soldaten erschossen jeden, den sie antrafen - auch Frauen, Kinder und Greise.
Thanh war im Wald spielen gewesen, als er die Schüsse und die Schreie hörte. Gegen alle Vernunft war er ins Dorf gelaufen, doch er hatte nur noch verkohlte Hütten und Leichen gefunden.
Am Grab seiner Eltern hatte Thanh geschworen, dass er nie wieder so schwach und hilflos sein würde. Wenn sich alle Welt vor Soldaten fürchtete, dann musste er eben selbst Soldat werden.
Doch jetzt war er Soldat und zitterte trotzdem wie Espenlaub. Aus einiger Entfernung hörte er Professor Zamorra nach ihm rufen. »Thanh! Wo sind Sie, verdammt noch mal? Melden Sie sich!«
Doch Thanh blieb stumm. Er wollte den Parapsychologen beschämen, indem er das Rätsel um diese geheimnisvollen Erscheinungen löste. Denn Thanh war immer noch Soldat, und als solcher hatte er gelernt, mit Situationen wie dieser fertig zu werden.
Thanh duckte sich und schlich weiter auf die Silhouette zu, die er vor wenigen Minuten einige Meter vor sich entdeckt hatte. Die Gestalt vor ihm hatte sich in den letzten Minuten nicht ein einziges Mal bewegt. Stumm und reglos stand sie da, fast wie eine dieser gruseligen Vogelscheuchen, die Thanh aus amerikanischen Horrorfilmen kannte.
Der Geheimdienstmann fluchte leise, als unter seinem rechten Schuh ein Zweig knackte. Für einen Moment war seine Aufmerksamkeit abgelenkt, und als er wieder zu der unheimlichen Gestalt sah, war sie verschwunden.
Thanh keuchte. Mit einer geübten Handbewegung entsicherte er die Kalaschnikow. Dann hörte er ein erneutes Knacken. Doch diesmal stammte es nicht von ihm.
Wütend wirbelte Thanh herum. »Verdammt, Zamorra, passen Sie doch auf…«
Doch es war nicht Zamorra. Das Gesicht der Gestalt, die zwei Meter von ihm entfernt im Gebüsch stand, war im Schatten der Schirmmütze kaum zu erkennen. Doch es sah seltsam verschrumpelt aus. So als sei der Besitzer uralt - oder mumifiziert.
Der Mann trug eine fleckige und an vielen Stellen zerrissene Uniform. In der Hand hielt er ein uraltes, schlammbeschmiertes Gewehr mit Bajonett. Wenn du einen Soldaten siehst - lauf weg, so schnell du kannst! Doch dies war weder ein Amerikaner noch ein Vietcong, und schon gar kein Angehöriger der vietnamesischen Volksarmee. Thanh kannte die Uniform aus dem Museum und seinen alten Schulbüchern.
Vor ihm stand ein Fremdenlegionär.
Das kann nicht, sein!, schoss es Thanh durch den Kopf. Fremdenlegionäre gibt es hier nicht mehr, seit die Franzosen nach der bedingungslosen Kapitulation von Dien Bien Phu aus Vietnam fliehen mussten. Das war 1954!
Der Geheimdienstmann nahm all seinen Mut zusammen und sprach die Gestalt an. Seine Stimme war kaum mehr als ein raues Krächzen.
»Wer, zum Teufel, sind Sie? Ich bin Offizier der Volksarmee. Legen Sie auf der Stelle das Gewehr nieder und weisen Sie sich aus!«
Aber die Gestalt antwortete nicht, trat sogar einen Schritt vor. Für einen Moment riss die Wolkendecke ein Stück auf, und Mondlicht fiel auf das von der Schirmmütze halb verdeckte Gesicht des Fremdenlegionärs. Es war eine mumifizierte, grässlich entstellte Fratze. Die Nase fehlte, und ein Teil der linken Gesichtshälfte war ihm offenbar weggeschossen worden.
Thanh riss er das AK-47 hoch und feuerte. Wie ein Besessener ballerte er das Magazin leer.
Die Gestalt schwankte im Kugelhagel, aber sie fiel nicht. Sie hob das Bajonett und stackste wie ein Roboter auf Thanh zu.
»Nein!«, keuchte Thanh. Er wollte sich umdrehen und wegrennen. Doch seine Füße schienen festgewachsen. Wie in einem Albtraum kam er kaum einen Schritt vorwärts. Seine vergebliche Flucht schien eine Ewigkeit zu dauern, dann hatte die Gestalt ihn erreicht.
»Bitte, nicht…«
Doch es war zu spät. Die stählerne Klinge des Bajonetts drang in
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