082 - Die Zeit der Zwerge
wurde, darüber befand sich die Auffangkammer, in der sich all die verschiedenen Flüssigkeiten, die durch ein Dutzend Rohre in das gemauerte Sammelbecken flossen, vereinten. Diese Mixtur wurde in dem schornsteinartigen Gebilde so lange erhitzt, bis sie als Dampf in den oberen Aufnahmebehälter aufstieg. Dort wurde der Dampf abgekühlt, kondensiert und verflüssigt. Durch ein Glasröhrchen floß das Gemisch in die eigentliche Retorte über der Flamme des kosmischen Ofens. Athanor war ein Gefäß mit drei übereinanderliegenden bauchigen Auswüchsen - als hätte man drei bauchige Kessel übereinandergestellt und miteinander verbunden. Jeder Kessel bestand aus Eisen; und von jedem Kessel führte ein gläsernes Röhrchen zu einer Retorte.
Es gab also insgesamt drei Retorten. Ich betrachtete sie eingehender und trat ganz nahe heran. In der untersten Retorte, die kürbisgroß war, befand sich eine graue, pulsierende, gallertartige Masse, die von einer wasserhellen Flüssigkeit umspült und betropft wurde. Die überschüssige Flüssigkeit floß durch ein Ventil in einen Abfluß. Die darüberliegende Retorte war mit einer bräunlichen Flüssigkeit halb gefüllt. Ich mußte ganz nahe herangehen, um erkennen zu können, daß darin etwas schwamm, das, mit einiger Fantasie, eine menschenähnliche Gestalt hatte. Ganz deutlich konnte man Auswüchse wie Extremitäten und einen Kopf erkennen, der allerdings kein Gesicht hatte. Aber dieses Wesen - jawohl, um ein solches mußte es sich bereits handeln - machte Bewegungen mit den Auswüchsen. Sein Körper zuckte.
Belot hielt wortlos eine Kerze an die Retorte. Das unfertige Geschöpf zuckte mit den oberen Auswüchsen und hielt sie an das Kopfgebilde, als wollte es seine Sehorgane vor dem Licht der Kerze schützen.
Atemlos richtete ich meinen Blick auf die oberste Retorte. Sie hatte die gleiche Größe und Form wie die beiden anderen, aber diese Retorte war mit einer tintenschwarzen Flüssigkeit randvoll gefüllt; kein Luftbläschen zeigte sich darin. Dafür war etwas anderes zu erkennen. Etwas bewegte sich in dieser Retorte.
Ich starrte lange darauf. Einmal hatte ich den Eindruck, daß winzige Händchen mit zarten Gliedern von innen gegen das Glas gedrückt wurden; dann wieder glaubte ich, ein strampelndes Beinchen zu sehen; und da - ein verzerrtes, aber nichtsdestotrotz menschenähnliches Gesichtchen preßte sich gegen die Glaswand und drückte sich eine knollenartige Nase glatt.
Ich richtete mich auf und blickte Belot an. Um seinen Mund spielte ein leicht spöttisches Lächeln. „Wie macht Ihr das, Alexander?" brachte ich nur hervor. „Das lebt! Jawohl, es lebt!"
„Es ist noch im Werden", erwiderte er. „Aber es hat bald seine Entwicklung abgeschlossen. Es wird dann noch immer unfertig sein, aber es gibt keine Möglichkeit, es weiter auszubilden."
„Ihr müßt mir sagen, wie Ihr dieses Wunder vollbracht habt", verlangte ich.
Er klopfte mir lachend auf die Schulter. „Ihr verlangt doch nicht, daß ich Euch meine letzten Geheimnisse anvertraue, Michele? So lange kennen wir uns noch nicht. Vielleicht später einmal. Aber ich will Euch nicht verheimlichen, auf welchem Wege ich mein Ziel erreicht habe." Er machte eine Bewegung, die die gesamte Apparatur des Laboratoriums einschloß. „Das alles findet ihr in jeder halbwegs perfekten Alchimistenküche", erklärte er. Dann deutete er auf den kosmischen Ofen. „Nur einen Athanor wie diesen werdet ihr nirgends finden. Gehen wir also auf das Gemisch der belebenden Flüssigkeiten nicht näher ein. Mein Rezept verrate ich ohnehin nicht. Befassen wir uns vielmehr mit der ersten Retorte, die mit dem untersten Kessel verbunden ist. Erweckt diese Retorte nicht den Eindruck eines Kindes, das an der Mutterbrust saugt?"
„Der Vergleich ist treffend", stimmte ich zu. „Aber was befindet sich in der Retorte?"
„Sperma."
„Sperma?"
„Allerdings. Mit einigen Zusätzen." Er lachte. „Jetzt tut nicht so erstaunt. Das Rezept stammt eigentlich von dem von Euch so hochverehrten Paracelsus. Er schreibt doch in seinen De generatione rerum naturalium, daß in einem Glaskolben eingeschlossenes menschliches Sperma in Venter equinum zur Putrefaktion gebracht werden muß. Nichts anderes habe ich in der untersten Retorte getan." „Ihr habt also Sperma in Pferdemist eingebettet und zur Verwesung gebracht", rekapitulierte ich. „Pferdemist ist wegen seiner Hitzeentwicklung beim Gärprozeß wichtig", erklärte Belot dazu; das war eine
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