082 - Niemand hört dich schreien
Pflichtbewußtsein drängte ihn, weiter nach dem Vermißten zu suchen.
»Mr. Carpenter!«
»Mr. Carpenter… arpenter… enter… ter… ter… er…« Das war das unheimliche Echo. Irving erkannte seine Stimme nicht mehr, als sie zu ihm zurückkam.
Irving fühlte sich belauert. Immer wieder blieb er stehen, und sein Herz trommelte aufgeregt gegen die Rippen. Manchmal drehte er sich blitzschnell um, weil er dachte, es wäre jemand hinter ihm, doch bisher hatte er noch niemanden entdeckt.
»Mr. Carpenter!«
Dasselbe spöttische Echo wieder.
Nein, das war nicht seine Stimme.
Zögernd ging er weiter, innerlich angespannt, ständig bereit, herumzuschnellen und Fersengeld zu geben. Er konnte nur hoffen, daß das dann noch möglich war. Die Überlieferung sprach von einer Rückkehr des Hexers, ohne einen genauen Zeitpunkt festzusetzen. Und es wurde behauptet, daß Clive Pendrake nicht allein kommen würde. Seine einstigen Folterknechte, grausamer noch als er, würden dann bei ihm sein.
Jeden Gang, jeden Raum betrat Paul Irving, und er spürte die Präsenz des Bösen mit einer geradezu schmerzlichen Deutlichkeit. Der alte Zauber, die starke Magie, die in all der Zeit niemand brechen konnte, durchströmten das düstere Gewölbe.
Als Irving die Folterkammer des Hexers betrat, spürte er die unheilvolle Bedrohung besonders deutlich. Sie werden kommen, dachte er beunruhigt. Sie sind auf dem Weg. Oder haben sie den Schritt aus der Vergangenheit in die Gegenwart bereits getan? War Nick Carpenter ihr erstes Opfer?
Fremde, nie gehörte Geräusche schwangen durch das Gewölbe. Es gehörte viel Mut dazu, nicht in heller Panik die Flucht zu ergreifen. Noch dazu, wenn man über die Schreckenstaten des Hexers so gut Bescheid wußte wie Paul Irving.
Es roch nach Feuer und Rauch, nach Schweiß und verbranntem Fleisch. Leben, geisterhaft und unsichtbar, befand sich im Keller des Schlosses, und es hätte Irving nicht gewundert, wenn plötzlich der gequälte Schrei eines Gefolterten aufgegellt wäre.
Obwohl er wußte, daß er Nick Carpenter nicht finden würde, setzte er die sinnlose Suche fort.
Und dann stand er vor dieser zugemauerten Tür, die Clive Pendrake bestimmt nicht aufhalten konnte. Der Hexer konnte die Mauer gewiß niederreißen oder einfach durchdringen. Was man mit Magie alles erreichen konnte, war noch weitgehend unerforscht. Gab es überhaupt etwas, wozu Höllenkräfte nicht imstande waren?
Kälte strömte dem Schloßverwalter entgegen, eisig, unnatürlich, durchdringend. Gebannt stand der Mann da, und er schwor sich, nie mehr jemanden hierher zu führen. Es war zu gefährlich geworden. Nick Carpenter war der Auftakt, der Beginn zu schrecklichen Dingen. Kein Mensch durfte den Schloßkeller mehr betreten.
Und ich sollte auch trachten, so rasch wie möglich von hier fortzukommen, sagte sich Paul Irving. Er versuchte sich einzureden, Nick Carpenter hätte das unterirdische Gewölbe verlassen. Vielleicht irrte der Verletzte in der Nähe des Schlosses umher.
Nach wie vor wußte Irving nicht, welcher Art die Verletzung des Mannes war. Vielleicht ist er gestürzt, überlegte er. Eine Nase kann stark bluten. Lilly Kovacs wollte ihm helfen, aber er war ohnmächtig. Sie hielt ihn für tot. Deshalb der Schock. Und als sie sich von ihm entfernte, stand er auf und verließ den Keller. Es läßt sich alles erklären…
Aber Paul Irving befürchtete, daß das, was er sich zusammengereimt hatte, nicht stimmte. Die Steinmauer schien zu pulsieren, und der Verwalter vermeinte, ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen. Es kam durch die Mauer, direkt auf ihn zu, ging auf ihn über, erfaßte und schüttelte ihn.
»Nein!« keuchte er entsetzt und wich zurück. »Laß mich! Weg! Zurück!«
Das Kellergewölbe vibrierte ohrenbetäubendlaut. Irvings Atem ging stoßweise. Er blickte sich verstört um. Brachten die finsteren Kräfte die Decke zum Einsturz?
Dicke Adern zuckten an Irvings Hals. Verzweifelt kämpfte er gegen die gespenstischen Einflüsse an. Wollten sie ihn in ihre Gewalt bekommen?
Alles geht von dieser Wand aus! schrie es in Paul Irving, während er mit hölzernen Schritten rückwärts stakte. Er riß sich von ihrem zwingenden, bannenden Anblick los, wandte sich um und tat das, was er schon lange tun wollte: Er ergriff die Flucht. Mit langen Sätzen stürmte er durch den Schloßkeller, keuchte Stufen hinauf und schleuderte Türen hinter sich zu.
Atemlos, hart am Rand einer Erschöpfung, erreichte er das Obergeschoß. Der
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