082 - Niemand hört dich schreien
Wagen. »O nein!« rief die Schriftstellerin ärgerlich aus und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Der Audi war links vorne etwas abgesackt, und ein heftiger Zug wirkte auf das Lenkrad ein. Vicky Bonney hielt es fest, damit der Wagen nicht vom Kurs abkam. »So kurz vor dem Ziel!« beklagte sie sich ungehalten.
»Was ist denn?« fragte Jubilee, während Vicky den Audi ausrollen ließ.
»Plattfuß«, sagte die Schriftstellerin.
»Plattfuß? Was ist das? Das Auto hat doch keine Füße.«
»So nennt man eine Reifenpanne«, erklärte Vicky Bonney. »In den Reifen befindet sich Luft. Wenn sie raus ist, hat der Wagen einen Platten.«
»Ach so. Und was tut man dagegen? Kann man den Reifen wieder aufpumpen?«
» Wir können es nicht. Dazu reicht unsere Puste nicht. Jetzt lernst du mal die anderen Freuden des Autofahrens kennen. Du wirst mir helfen, den kaputten Reifen zu wechseln. Zum Glück ist jedes Fahrzeug mit einem Reserverad ausgerüstet. Klug, nicht wahr?«
Vicky Bonney steuerte den Audi so weit wie möglich nach links ran. »Wir könnten den Wagen hier stehen lassen und zu Fuß weitergehen«, sagte Jubilee.
»Wenn du mir zur Hand gehst, sind wir in längstens zehn Minuten fertig«, entgegnete Vicky. »Leider darf man hier nicht hoffen, daß ein Kavalier vorbeikommt, der uns die Arbeit abnimmt.«
Sie stiegen aus. Die rasch fortschreitende Dämmerung machte aus dem dichten Wald mehr und mehr eine schwarze Wand. Jubilee sagte es nicht, aber ganz geheuer war ihr hier nicht, deshalb war sie ganz froh, daß sie Vicky helfen durfte.
Vicky Bonney legte das Reserverad bereit, setzte den Wagenheber an, und Jubilee drehte ungestüm die Kurbel. Sie staunte, wie schnell sich der Wagen hob.
»Ich wußte nicht, daß ich so stark bin«, sagte der Prä-Welt-Floh lachend. »Ein großes, schweres Auto kann ich mühelos heben.«
»Behalte es lieber für dich. Die Männer mögen keine Mädchen, die kräftiger sind als sie.«
Während sie den Reifen wechselten, setzte sich ein unangenehmes Gefühl in Jubilees Nacken. Sie warf Vicky Bonney einen nervösen Blick zu und raunte: »Du, ich glaube, wir werden beobachtet.«
***
Carole Irving ging im Wohnzimmer nervös auf und ab. Sie nagte an ihrer Unterlippe, verschränkte immer wieder die Finger und trat zum x-ten Mal ans Fenster, um in den Schloßhof hinunterzusehen. Vicky Bonney hatte gesagt, sie würde gleich losfahren. Sie hätte bereits hier sein müssen.
Paul Irving trank an diesem Tag mehr als sonst, und der Scotch verhalf ihm zu einer lethargischen Ruhe. »Setz dich doch, Carole«, sagte er schleppend.
»Wo nur Miss Bonney so lange bleibt?«
»Vielleicht kam ihr irgend etwas dazwischen. Du darfst nicht vergessen, daß sie eine vielbeschäftigte Autorin ist. Ein weiterer Anruf kann sie aufgehalten haben. Sie trifft nicht früher ein, wenn du hier wie ein gereiztes Tigerweibchen hin und her rennst.«
Carole setzte sich. Sie klemmte die Hände zwischen ihre spitzen Knie und sagte heiser: »Es ist ihr doch hoffentlich nichts zugestoßen. Sie könnte einen Unfall gehabt haben - meinetwegen.«
»Wieso denn deinetwegen?«
»Wenn ich sie nicht angerufen und zu uns gebeten hätte…«
»Du darfst nicht immer gleich so schwarz sehen, mein Kind«, sagte der Schloßverwalter.
»Und du solltest nichts mehr trinken, Dad«, sagte Carole rügend.
»Ist eine Ausnahme«, sagte Paul Irving und nahm einen weiteren kleinen Schluck vom Scotch. »Damit mir nicht allzu viele verrückte Gedanken durch den Kopf gehen. Wenn ich mal zu spinnen anfange - was gottlob nicht oft vorkommt -,besteht die Gefahr, daß ich damit nicht so bald wieder aufhöre. Mach dir keine Sorgen. Du hast deinen Vater noch nie betrunken gesehen, und so wird es auch in Zukunft sein.«
Carole stand wieder auf, und sie begab sich abermals zum Fenster. Schwarz und still lag der Schloßhof da. Wie ein großes tiefes Loch kam er dem Mädchen vor.
Sie wandte sich abrupt um, und ihr unruhiger Blick glitt suchend durch den Raum. »Wo ist Whisky? Wo ist der Hund?«
Paul Irving zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er sich irgendwo hingelegt… Whisky! He, Whisky, du kleiner, rauhhaariger Halunke, komm zu Herrchen!«
»Whisky!« rief auch Carole, und sie lief durch den Raum, schaute unter den Tisch und die Stühle, hinter den chintzbezogenen Ohrensessel, in dem ihr Vater saß, und als sie bemerkte, daß die Wohnzimmertür einen Spalt breit offen war, stand für sie fest, daß der Hund den Raum
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