082 - Niemand hört dich schreien
nicht vernichtet. Er kehrte zurück ins Leben, und von nun an würde er unsterblich sein.
Mit einem Schritt überwand er das aufgelöste Hindernis. Er trat durch die Mauer, und eine wilde, grausame, fanatische Glut leuchtete in seinen Augen auf.
Er, der Bruder des Teufels, war wieder da. Heute ergriff er Besitz von diesem Keller, und schon bald würde ihm wieder das ganze Schloß gehören.
Hinter ihm traten seine Folterknechte durch die Mauer. Häßliche Kerle, größer und breitschultriger als ihr Herr und Gebieter, in rabenschwarzes, mattglänzendes Leder gekleidet. Ein langes Messer steckte in ihren Gürteln, und die Schaftstiefel ragten bis über die Knie.
Viele unglückliche Menschen hatten ihre grausame Kraft schon zu spüren bekommen, und so sollte es wieder sein. Die alten, schrecklichen Zeiten würden wieder aufleben.
Die Hölle wollte es so…
***
Vicky Bonney lenkte den lindengrünen Audi 100, einen Leihwagen, routiniert und konzentriert. Neben ihr saß Jubilee, das siebzehnjährige Mädchen, das keinen Nachnamen hatte. Zumindest kannte ihn niemand, denn sie war im Alter von vier Jahren von einem Dämon namens Cantacca aus ihrem Elternhaus entführt worden und als Cantaccas Gefangene auf der Prä-Welt Coor aufgewachsen. Dreizehn Jahre hatte sie dort gelebt, deshalb war ihr die Erde entfremdet. Aber sie war sehr wißbegierig und lernte schnell.
Autofahren, das hätte sie auch gern gekonnt, aber Vicky hatte ihr erklärt, daß sie dazu erst achtzehn sein müsse und einen Führerschein brauche.
»Führerschein«, hatte der sympathische Prä-Welt-Floh gesagt. »Wozu denn das? Entweder ich kann fahren, dann kann ich's auch ohne Schein, oder ich kann's nicht, dann fahre ich mit diesem Ding auch nicht besser.«
Vicky Bonney hatte ihr daraufhin klarzumachen versucht, daß der Führerschein nicht dazu diente, daß man besser oder schlechter fuhr, sondern daß er die behördliche Genehmigung darstellte.
Jubilee hatte den Kopf geschüttelt und gemeint: »Warum ist auf dieser Welt nur alles so schrecklich kompliziert?«
»Weil ohne all diese Regeln und Gesetze ein totales Chaos herrschen würde.«
»Aber man wird sehr in seinen Freiheiten eingeschränkt.«
»Nicht, wenn man daran gewöhnt ist.«
»Man darf auf dieser Welt so vieles nicht, daß es mir manchmal vorkommt, als würde ich in einem riesigen Gefängnis leben.«
»Trotzdem lebst du hier besser und sicherer als auf Coor, das mußt du doch zugeben.«
»Darf ich irgendwann mal ein kleines Stück mit so einem Auto fahren?«
»Aber ja. Das läßt sich schon machen. Wenn wir mal in einer Gegend sind, wo wir eine Straße für uns allein haben, zeige ich dir, wie man so ein Fahrzeug bedient.«
»Macht das Spaß?«
»O ja. Aber nicht während der Hauptverkehrszeit in der Innenstadt. Da kriegt man graue Haare.«
Carole Irvings Anruf hatte beunruhigend geklungen, deshalb hatte sich Vicky Bonney sofort auf den Weg nach Exford gemacht. Sehr genau hatte Carole die Autorin nicht informiert. Sie hatte ihren Bericht eher allgemein gehalten, aber doch deutlich genug durchblicken lassen, daß sie Vicky sehr gern auf Drake Castle gehabt hätte - unheimlicher Vorgänge wegen. Vicky sollte sich eine zugemauerte Tür ansehen und beurteilen, ob das, was durch die Mauer drang, eine ernstzunehmende Gefahr darstellte.
Die Dämmerung hatte eingesetzt, und Vicky Bonney fuhr mit abgeblendeten Scheinwerfern. Sie hatten Exford links liegengelassen und befanden sich nun auf der schmalen, kurvigen Straße, die zum Schloß hinaufführte.
Drake Castle war von einem dichten, finsteren Mischwald umgeben. Jubilee blickte durch das Seitenfenster. Die Blätter eines Buschs, dessen Zweige sich der Straße entgegenstreckten, klatschten gegen das Glas, und das Mädchen zuckte erschrocken zusammen.
»Ist es noch weit?« fragte Jubilee.
»Ich weiß es nicht. Ich war noch nie da«, antwortete die blonde Schriftstellerin. »Aber ich glaube, daß wir es bald geschafft haben.«
»Ich bin gespannt, was es so Unheimliches auf Drake Castle gibt«, sagte Jubilee. »Vielleicht wohnt hinter dieser zugemauerten Tür ein gefährlicher Drache.«
»Komm, hör auf. Zügle deine Phantasie ein bißchen.«
»Gibt es auf der Welt keine Drachen mehr?«
»Nein. Glücklicherweise sind sie alle ausgestorben.«
»Auf Coor gibt es noch eine ganze Menge von diesen Biestern.«
»Ich weiß. Ein Grund mehr, warum es mich nicht gelüstet, auf Coor zu leben«, sagte Vicky Bonney. Plötzlich rumpelte der
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