082 - Niemand hört dich schreien
Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht, sammelte sich an der Kinnspitze und tropfte auf den Boden.
Er versuchte sich zu sammeln, drehte sich schwer keuchend und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. Er konnte seiner Tochter so nicht gegenübertreten. Er wollte sie mit seiner Furcht nicht anstecken, und er wollte vor allem sein Gesicht nicht vor Carole verlieren. In einer solchen Verfassung hatte sie ihn noch nie gesehen, und sie sollte ihn auch so nie zu Gesicht bekommen. Er wollte ihr stets ein Vorbild sein, selbst in solchen Situationen.
Gierig pumpte er mit offenem Mund Luft in seine Lunge, und er wischte sich den Schweiß ab. Allmählich erholte er sich, und sobald es ihm wieder etwas besser ging, setzte er den Weg fort.
Als er den Raum betrat, den sie als Wohnzimmer benützten, stellte er fest, daß Lilly Kovacs nicht mehr auf dem Sofa saß.
Whisky raste mit seinen kurzen Beinchen heran, schnellte an ihm hoch und wollte gestreichelt werden. Geistesabwesend tätschelte Irving den Kopf des Tiers.
»Wo ist das Mädchen?« fragte er.
»Du warst lange weg«, antwortete Carole.
»Ich habe mich gründlich umgesehen.«
»Aber du hast Nick Carpenter nicht gefunden.«
»Leider nein.«
»Inzwischen war Dr. Warren hier.«
»Und?«
»Er hat Lilly Kovacs mitgenommen. Er sagte, er könne zuwenig für sie tun. Gegen diesen Schock müsse man im Krankenhaus etwas unternehmen.«
»Er hat sie ins Krankenhaus gebracht?«
»Er sagte, das wäre für sie das Beste«, erwiderte Carole. »Was unternehmen wir denn nun wegen Nick Carpenter?«
»Ich weiß es noch nicht, Carole.«
»Vielleicht sollten wir die Polizei…«
»Keine Polizei«, sagte Paul Irving. »In meinem ganzen Leben habe ich noch nie die Hilfe der Polizei gebraucht.«
»Um so mehr hast du das Recht, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen«, sagte Carole, doch der Verwalter wollte davon nichts wissen. Er bat seine Tochter, mit ihm die nähere Umgebung des Schlosses abzusuchen. Sie nahmen den Hund mit, doch Whisky war ihnen keine große Hilfe. Der kleine Kerl hatte zwar eine hervorragende Spürnase, aber eine Spur von Nick Carpenter entdeckte er nicht.
Wieder im Schloß, trank Paul Irving einen großen Scotch - pur. Das kam bei ihm nur alle Jubeljahre vor. Er forderte seine Tochter auf, sich zu ihm zu setzen, er hätte mit ihr zu reden, und dann kleidete er seine Ängste und Befürchtungen in sorgfältig gewählte Worte, damit Carole trotz des Ernstes der Lage keinen Schock bekam.
Das Mädchen nahm das Gesagte mit erstaunlicher Ruhe hin, und sie machte ihrem Vater einen Vorschlag. »Ich könnte Vicky Bonney anrufen und bitten, zu uns zu kommen. Wenn sie Zeit hat, kommt sie bestimmt.«
»Und was soll sie auf Drake Castle?«
»Sie hatte schon des öfteren mit Geistern und Dämonen zu tun, und sie ist die Freundin des Dämonenjägers Tony Ballard. Wenn wir sie bitten, wird sie sich die zugemauerte Tür ansehen. Vielleicht weiß sie uns einen Rat. Wenn nicht, wird sie garantiert mit Tony Ballard reden, damit er uns hilft.«
Paul Irving hielt das für keine großartige Idee, aber Carole konnte sehr hartnäckig sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Bisher hatte sie stets ihren Willen bei ihrem Vater durchgesetzt, und so war es auch heute.
Als er resignierte, griff Carole zum Telefon, wählte die Vorwahl von London, und dann eine Nummer in Paddington.
***
In der Folterkammer
Die Zeit war endlich reif für die Rückkehr. Schwefelgelbe Schwaden sickerten durch die Mauerritzen, und die grauen alten Steinquader gaben das Ächzen, Wimmern und Stöhnen der einst Gefolterten frei. Schaurige Laute hallten durch den Keller, während die Schwefeldämpfe über den schmutzigen Boden krochen und sich ausbreiteten wie ein Willkommens-Teppich.
Schritte, stampfend und schwer, näherten sich der zugemauerten Tür, und es war so, wie Paul Irving befürchtet hatte: die aufgemauerten Steine stellten für Clive Pendrake kein unüberwindbares Hindernis dar. Sie vermochten ihn nicht aufzuhalten.
Magie machte die Steine nicht nur transparent, sondern auch durchlässig. Breit und wuchtig stand Clive Pendrake im Moment noch hinter der Mauer, eingehüllt in einen weiten schwarzen bodenlangen Umhang - die Personifizierung des Bösen. Mit Hörnern auf der Stirn hätte er große Ähnlichkeit mit Asmodis gehabt, und so fühlte er sich auch - als Bruder des Teufels.
Er hielt sich für stark und unbesiegbar. Man hatte ihn vor langer Zeit getötet, jedoch
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