0853 - Die vier aus der Totenwelt
nicht zu steil in den weichen Boden, sondern setzte das Blatt in einem schrägen Winkel an.
Der Haufen neben dem Grab nahm an Größe zu.
Schweiß rann über mein Gesicht. Mein alter Herr wollte mich ablösen, dagegen hatte ich etwas. »Es wird nicht tief sein, hoffe ich«, – und stieß im selben Augenblick mit der Blattkante gegen einen relativ weichen Widerstand.
Das konnte nur ein Körper sein!
Ich hielt inne, drehte den Kopf und schaute hoch zu meinem Vater. »Okay, Dad, ich glaube es ist soweit.«
Er beugte sich vor und stützte seine Handflächen gegen die Oberschenkel.
Behutsam machte ich weiter. Ich wollte nichts zerstören und hielt den Spaten dabei ziemlich flach. Der Widerstand war dicht unter der weichen Lehmkrume verborgen. Noch war nicht zu erkennen, wo sich das Kopf- und wo sich das Fußende der Leiche befand.
Die Sonne strahlte uns an. Sie schien es an diesem Tag besonders gut zu meinen, denn sie brannte auf meinen Rücken hinab. Ich legte den Spaten zur Seite und räumte dicht vor meinen Füßen die letzten Krumen Erde mit den Händen zur Seite.
Etwas Helles schimmerte durch.
Haut…
Mit ein paar weiteren Bewegungen befreite ich den Gegenstand von den letzten Resten graubrauner Erde.
Wir hatten freie Sicht.
Und wir sahen das Gesicht.
»Mein Gott«, flüsterte der alte Herr, »mein Gott, das ist Jimmy Wayne.«
Ich hatte nur den Gesichtsausschnitt freigelegt, mehr nicht. Er kam mir trotzdem vor, als läge eine Maske in der Erde. Starr und leicht angefleckt, denn ein Teil der Haut war bereits in den Zustand der Verwesung übergegangen.
Nicht einmal die Augen hatte der Mörder dem Zwanzigjährigen geschlossen. Es kam mir vor, als würde mich der Tote bittend und qualvoll anschauen.
Was mußten die vier erlebt haben, wenn sie lebendig begraben worden waren? Da konnte ich nur hoffen, daß sie der Tod schon zuvor ereilt hatte, zumindest bei dreien von ihnen.
Mein Vater wischte immer wieder über sein Gesicht, weil er es einfach nicht fassen konnte. Er wollte auch zu mir sprechen, doch seine Kehle saß zu. Dann ging er einige Schritte zur Seite. Ich hörte trotzdem, wie er weinte.
Auch mein Gesicht glich dem des Toten, so starr und hart war es geworden. Ich fing wieder damit an, die Erde zurückzuschaufeln, und sehr bald schon war das Gesicht wieder bedeckt. Jetzt sah niemand mehr, wer hier lag.
»Ich denke, wir sollten zurückfahren, Dad. Hier haben wir wohl nichts mehr verloren.«
»Ja, Junge, das meine ich auch.«
Ich klappte den Spaten zusammen. Schweigend gingen wir zurück zum Wagen, wo ich das Werkzeug auf die Ladefläche legte. Es war uns gelungen, einen Teil des Geheimnisses zu lüften, das meiste aber war noch tief verborgen, und wir würden uns anstrengen müssen, um es hervorzuholen.
»Was sagen wir den Eltern, John? Sagen wir es ihnen überhaupt?«
Ich drehte mich um. Mein Vater lehnte an der Beifahrertür und schaute dabei über das Wasser. Ich war sicher, daß er es nicht einmal sah. »Nein, Dad, noch nicht. Später ja, aber nicht jetzt. Ich möchte in Ruhe weiter arbeiten.«
»Du willst ihn fangen?«
»Natürlich.« Ich ging zum Schlauchboot und ließ die Luft heraus.
Erst als das zischende Geräusch verklungen war, sprach ich weiter.
»Ich glaube nicht, daß er in seinen Aktivitäten stoppen wird. Diese vier sind möglicherweise der Anfang gewesen. Er wird weitermachen, davon bin ich voll und ganz überzeugt.«
»Meine Güte, ja. Aber was treibt ihn? Was treibt ihn dazu, Menschen bei lebendigem Leib zu begraben? Ich… ich … komme damit nicht zurecht, wirklich nicht.«
»Es muß einen Grund geben, Dad.«
»Ist das eine Antwort?«
»Nein, ich weiß. Es wird uns viel Mühe und Schweiß kosten, dies herauszufinden.«
»Was sagen wir deiner Mutter?«
Ich lächelte mit einer Gesichtshälfte. »Das kann ich dir auch nicht sagen. Irgendwann werden wir mit der Wahrheit herausrücken müssen. Wir können unterwegs darüber reden.«
»Gut.«
Zugleich stiegen wir ein. Diesmal fuhr ich. Bevor ich den Wagen startete, warf ich noch einen letzten Blick über den See. Es war ein Abschied, doch ein Abschied voller Zorn und Wut, denn ich haßte diese Gegend, in der so viel Schreckliches geschehen war…
***
Mary Sinclair würde nie von sich behaupten, in die Zukunft sehen zu können, in diesem Fall oder an diesem Tag aber da hatte sie so etwas wie eine angedeutete Vision.
Sie fürchtete sich vor den kommenden Stunden. Nur ging es dabei nicht um sie persönlich, sie
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