0856 - Treffpunkt Totenwelt
sie über den Platz zu der Stelle, an der sich das Tor befunden hatte. Es war tatsächlich verschwunden. Die Stelle sah genauso aus wie die übrigen Wandungen des Würfels, der Tlagalagh beherbergte.
„Oh, Gott!" entfuhr es Mabel. „Jetzt sind wir echte Gefangene dieser verdammten Stadt!"
„Du solltest nicht Gott anrufen und fluchen in einem Atemzug", sagte Guy grinsend.
Dann wurde er wieder ernst. „Wahrscheinlich hat Tlagalagh das Tor nur verschlossen, weil es draußen Gefahren gibt, die die Stadt nicht hereinlassen will. Sie wird das Tor wieder öffnen, wenn die Gefahr vorbei ist."
„Du sprichst von Tlagalagh wie von einem lebenden Wesen", erwiderte Mabel.
„In gewissem Sinne ist die Stadt das auch: ein hochkomplizierter technischer Organismus, der für seine Bewohner sorgt und sie behütet", meinte Guy Nelson.
„Er hat uns zu Ameisen gemacht!" sagte Mabel vorwurfsvoll.
„Tlagalagh hat uns verkleinert, damit wir die Stadt betreten konnten", erklärte Guy. „Du wußtest, was geschieht, wenn du durch das Tor gehst. Dennoch hast du es nicht erwarten können, es zu tun. Warum bist du nicht draußen geblieben, Mabel?"
Mabel stemmte entrüstet die Fäuste in die Hüften und blickte ihren Bruder aus blitzenden Augen an.
„Du bist schließlich mein Bruder, auch wenn du das Schwarze Schaf der Familie bist, Guy! Ich konnte dich doch nicht allein in dieser lasterhaften Stadt lassen."
„Lasterhafte Stadt?" entgegnete Guy verblüfft. „Nenne mir ein einziges Laster, dem man hier frönen kann - und ich werde es tun!"
„Du säufst", antwortete Mabel.
„Nur meinen eigenen Bourbonvorrat - und auch den nur in Tausendsteln eines Tropfens", erwiderte Guy. „Die Versorgungssysteme der Stadt geben leider nicht einen Milliliter Alkohol her."
„Woher sollte ich das wissen!" sagte Mabel. „Was tun wir jetzt, Guy?"
Guy Nelson blickte aus zusammengekniffenen Augen zu dem violetten Himmel hinauf, der sich über der Stadt wölbte.
„Ich schlage vor, du kehrst in unsere Wohnung zurück", sagte er bedächtig. „Ich werde noch eine Weile hier warten und dann nachkommen."
„Worauf willst du warten?"
„Auf ein Zeichen von Tengri Lethos - oder auf etwas anderes, das mir verrät, was geschehen ist", sagte Guy.
Mabel zögerte eine Weile, dann meinte sie: „Na, schön, Guy! Wenn du hier bleibst, kannst du wenigstens keinen Whisky trinken.
Aber bleib' nicht zu lange!"
Guy Nelson schüttelte den Kopf.
Als seine Schwester im Turm verschwunden war, wartete er noch einige Minuten, dann schlenderte er zur Tür des Nachbargebäudes. Sie öffnete sich automatisch vor ihm. Guy trat in eine große Halle, in deren Wandung zahlreiche Nischen eingelassen waren. In den Nischen standen die Statuen seltsamer unterschiedlicher Lebewesen.
Keines glich einem Menschen oder dem Vertreter einer anderen bekannten Spezies.
„Bitte, entschuldige die Störung, Bruder!" sagte Guy zu einer der Statuen. Er griff um sie herum und holte eine mit Bourbon gefüllte Flasche dahinter hervor.
Anschließend verließ er das Gebäude wieder. Draußen setzte er sich, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck.
Blinzelnd schaute er über den weiten Platz.
„Ich trinke auf dich, Tengri Lethos!" sagte er. Nach einem weiteren kräftigen Schluck fügte er hinzu: „Und ich trinke darauf, daß Mabel nichts davon merkt, daß die Zeit in Tlagalagh schneller abläuft als draußen. Dank der semiorganischen Fäden in den Anzügen, die der Hüter des Lichts uns gab, altern wir nicht, noch können wir erkranken.
Wir werden also auch nach tausend Jahren so jung wie heute sein."
Er stieß auf, dann trank er weiter - und während sein Geist sich angenehm vernebelte, überlegte er, ob Tengri Lethos ebenfalls etwas von dem Zeitunterschied gemerkt hatte, der zwischen Tlagalagh und draußen herrschte.
Der Hüter des Lichts wußte vielleicht nichts davon, denn er mochte die winzigen Anzeichen, aus denen Guy Nelson auf den Zeitunterschied geschlossen hatte, übersehen haben. Schließlich war er längere Zeit vollauf damit beschäftigt gewesen, Tlagalagh aus seiner unsichtbaren Verankerung in dem Planeten zu lösen und in einem Heliopark seines Ewigkeitsschiffs abzusetzen.
Und danach hatte er eine Botschaft von einem alten Bekannten seiner Eltern bekommen, die ihn veranlaßte, den Rückweg nach Andromeda anzutreten, um von dort aus weiter zur Milchstraße zu fliegen. Auch das würde ihn voll beschäftigt
Weitere Kostenlose Bücher