0888 - Angriff auf die Vampirstadt
sondern nickte nur dankbar. »Draußen wartet ein Herr, der Sie sprechen möchte.«
»Draußen? Sie meinen in der Halle?«
»Äh, nein Mademoiselle, ich meinte tatsächlich draußen. Vor der Zugbrücke.«
Fassungslos starrte Nicole den Butler an. Es gab eigentlich nur eine Erklärung, warum ein Besucher das Château nicht betreten wollte. Weil er es nicht konnte. Die nächsten Worte des Butlers bestätigten ihren Verdacht.
»Der Gentleman deutete an, es würde ihm ein gewisses Unbehagen bereiten, sollte er die Schwelle unseres behaglichen Heims überschreiten.«
»Die M-Abwehr!«
Das Château wurde durch zahlreiche Bannzeichen vor schwarzmagischen Übergriffen aller Art geschützt. Kein Dämon konnte die so erzeugte Schutzkuppel durchdringen.
»Ich glaube, das war tatsächlich das, worauf der Gentleman anzuspielen beliebte. Es ist übrigens ein älterer, sehr gebildet aussehender Asiate. Ich würde sagen, Chinese.«
Gryf stieß einen Pfiff aus. »Wenn man vom Teufel spricht. Wo kommt der denn jetzt plötzlich her? Ich dachte, der alte Raffzahn hätte sich endgültig in seine Choquai-Traumwelt verabschiedet.«
»Frag mich was Leichteres«, sagte Nicole abwesend. »Am besten, wir fragen ihn einfach.«
Das war für William das Stichwort. Als würde Nicole niemals ohne seine Hilfe ihn ihrem eigenen Heim den Weg zur Haustür finden, verkündete er würdevoll: »Ich werde Sie zu ihm geleiten. Wenn die Herrschaften mir folgen wollen?«
***
Zamorra und Tsa Mo Ra wandelten eine schier endlos erscheinende Allee entlang. Um sie herum erstreckten sich Reisfelder bis zu den in weiter Ferne liegenden Bergen. Dahinter floss der Yangtze, dessen ungeheure Wassermassen für die ungewöhnliche Fruchtbarkeit dieses Landstrichs verantwortlich waren. Hinter ihnen blitzten in der Mittagssonne die prächtigen, aus purem Gold bestehenden Dächer von Choquai.
Die wenigen Bauern, denen sie begegneten, verbeugten sich respektvoll vor den beiden Männern. Aus ihren Gesichtern las Zamorra deutlich, dass es nicht bloß Furcht vor den Ranghöheren war, die sie zu dieser Demutsgeste verleitete, sondern echte Bewunderung für seinen Begleiter, den Hofzauberer Tsa Mo Ra.
Die hoch am Himmel stehende Sonne wärmte ihre Haut. Zamorra verstand nur zu gut, dass diese Welt ein Paradies für Vampire sein musste. Man nannte sie das Volk der Nacht, aber er hatte nie darüber nachgedacht, wie sehr sie die Sonne vermissen mussten. Bis heute.
Irgendwo zwitscherte fröhlich ein Vogel und sogleich antwortete ihm ein Artgenosse. Es war erstaunlich, wie harmonisch sich das blühende Leben in diese Welt der Untoten einfügte.
»Es ist wunderschön«, sagte Zamorra. Er war so gerührt, dass er beinahe geweint hätte vor lauter Glück, hier sein zu dürfen.
»Das ist es. Hast du es vermisst?«
»Ich?« Zamorra sah den Hofzauberer erstaunt an. »Wie könnte ich? Ich war noch nie hier…«
»Nein?« Tsa Mo Ra lächelte. »Lass das bloß nicht Shao Yu hören. Sie wäre dir sehr böse, wenn sie das hören würde.«
Zamorra hielt an. »Wer ist Shao Yu?«, fragte er, doch die Frage richtet sich weniger an sein Gegenüber als an ihn selbst. Irgendetwas brachte der Name in ihm zum Klingen. Aber so sehr er auch sein Gedächtnis durchforstete, er konnte sich nicht erinnern.
»Sie ist meine Frau«, sagte Tsa Mo Ra mit einer milden Mischung aus Spott und Tadel. »Und deine. Hast du das wirklich vergessen?«
»Ja«, räumte Zamorra zerknirscht ein. »Das habe ich wohl.« Wie aus dem Nichts tauchte vor seinem inneren Auge ein Bild auf. Die schönste Vampirfrau, die er je gesehen hatte, stand auf einem Balkon vor der prächtigen Kulisse von Choquai und lächelte ihn an. Shao Yu. Wie konnte ich dich je vergessen? »Aber jetzt erinnere ich mich wieder. Werde ich sie wieder sehen?«
»Ja, das wirst du«, sagte Tsa Mo Ra, und sein Lächeln wärmte Zamorra das Herz. »Ganz bestimmt.«
***
Es war tatsächlich Fu Long, und er hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Steif und würdevoll stand er vor der Zugbrücke, die über den wasserlosen Graben führte, und wartete darauf, empfangen zu werden.
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein Gesicht, als die kleine Gruppe auf ihn zueilte. Nicole hatte längst die Führung übernommen, Gryf folgte dichtauf, und der Butler eilte hinterher, sorgsam bemüht, trotz des hohen Tempos Haltung zu bewahren.
»Nicole Duval.« Fu Long verbeugte sich respektvoll vor der Hausherrin. »Es ist lange her…«
»Nicht lange
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