0907 - Imperium der Zeit
Vortrag bildlich untermalte, »war sie sogar Regierungssitz eines eigenen Reiches!«
Das Imperium Galliarum, erläuterte der Professor auf die fragenden Blicke seines Auditoriums, sei zwischen 259 und 274 nach Christus der Versuch gewesen, dem Römischen Reich einen Gegenentwurf zu bieten. Anfangs aus Köln geleitet, wechselte der Regierungssitz des vom Gallier Marcus Cassianius Latinius Postumus gegründeten Reiches schließlich nach Trier, wo es unter anderem unter der Leitung von Kaiser Terticus I. noch einige Jahre existierte.
Von Hoyten fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen Haare. »Das gallo-römische Sonderreich, wie man es auch nennt, ist verschiedenen Umständen verschuldet, von denen vielleicht dieser am schwersten wiegt: die Krise Roms. Sie müssen verstehen, dass Rom zu der Zeit, von der wir sprechen, unter der Herrschaft der sogenannten Soldatenkaiser schwächelte. Diese militärischen Machthaber blieben selten länger im Amt, als ihr militärischer Status ihnen ein entsprechendes Gefolge und Unterstützung gewährte, dann fielen sie den Umständen zum Opfer. Umstände, die oft aus Ursupatoren oder selbst ernannten Gegenkaisern bestanden. Rom hatte, um es salopp auszudrücken, genügend eigene Probleme und konnte sich nicht in genügendem Maße mit den Geschehnissen westlich des Rheins befassen. Und dort nutzte man das geschickt aus.«
Eine weitere Folie wurde aufgelegt, und Nicole sah die Fotografie einer alten Münze, auf der das Profil eines bärtigen Mannes mit Helm und Rüstung abgebildet war. »Lucius Domitius Aurelianus«, erläuterte von Hoyten. »Kaiser in Rom ab 270. Er war derjenige, dem es gelang, die Reichseinheit wiederherzustellen. Er war es, der gegen Terticus zog und sich zurückholte, was des Kaisers war. Und durch ihn, meine Damen und Herren«, fügte von Hoyten schmunzelnd hinzu, »wurde unser Trier wieder zu einer ganz normalen Großstadt. Zu einem Teil des Römischen Reiches.«
***
»Imperium Galliarum, so so«, sagte Zamorra und lächelte den Akademiker aufmunternd an. Es war spät geworden, ging allmählich schon auf 23 Uhr zu, und noch immer standen er, Nicole und Archibald von Hoyten im Foyer des Museums. Noch immer waren sie in ein angeregtes und anregendes Gespräch vertieft. Zamorra war ein historisch bewanderter Mann und wusste vermutlich weit mehr über die Geschichte der Welt als die meisten seiner Mitmenschen, doch diese kleine Anekdote aus der Trierer Vergangenheit war sogar ihm neu gewesen. Umso faszinierender fand er sie.
Von Hoyten schien es ähnlich zu gehen. »Ganz genau«, sagte der Weißhaarige und nickte begeistert. »Ist das nicht beeindruckend? Gleich hier war einst die Hauptstadt eines kleinen Weltreiches. Andererseits war das gallo-römische Imperium alles andere als klein! Zeitweise erstreckte es sich sogar bis weit in den Süden des heutigen Europas, umfasste Britannien und Teile Spaniens.«…
»Unfassbar, dass Rom so einen Affront gegen den eigenen Herrschaftsanspruch ungesühnt ließ«, sagte Nicole.
»Na«, sagte der Trierer Historiker und schüttelte leicht den Kopf, »so würde ich es nicht sehen. Wie ich eben zu schildern versuchte, hatte Rom in dem Zeitraum, von dem wir sprechen, einfach genug mit sich selbst zu tun. Ständig tauchten neue Soldatenführer auf, die sich, von einer momentanen Popularitätswelle getragen und von einer Armee unterstützt, zum Kaiser ausriefen. Manchmal existierten sogar mehrere dieser Möchtegerns nebeneinander und weigerten sich beharrlich, die ›Konkurrenz‹ anzuerkennen. Natürlich hielten sich diese Soldatenkaiser nie lange im Amt, doch sorgte schon ihre immense Anzahl dafür, dass das Reich nachhaltigen Schaden nahm. Und ohne ein funktionierendes Innenleben fällt es schwer, sich auch noch um das Außen kümmern zu wollen, finden Sie nicht?«
Von Hoyten zwinkerte Nicole zu, und Zamorra bemerkte amüsiert, wie seine Partnerin leicht errötete. So viel Charme hätte er dem alten Wissenschaftler gar nicht zugetraut. Wie ein Ladykiller sah er wirklich nicht aus.
Der Meister des Übersinnlichen strich sich wie beiläufig über das Hemd. Er spürte die Umrisse des Amuletts darunter, dass er - übrigens trotz mehrmaliger Proteste der besorgten Nicole - abermals um den Hals trug, und wusste, dass es Zeit wurde zu gehen. Die Nacht war angebrochen, und vielleicht war es nur noch eine Frage der Zeit, bis von Hoytens historisches Trier abermals in die Gegenwart einbrach und ein weiteres Menschenleben
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