0913 - Das Gespenst
bereit, das hatte er auf seinen langen Wanderungen schon des öfteren erlebt, und er kannte auch viele alte Geschichten, die erzählt wurden.
Er hatte sie an den Orten gehört, die ihm zugesagt hatten, wo er immer länger geblieben war.
Es gab keinen Dunst, keinen. Nebel und auch keinen Staub. Die Luft war sehr klar. So konnte sich die Kapelle sehr deutlich abzeichnen. Der kleine Turm war noch vorhanden. Er wirkte so, als hätte er seine Gründe gehabt, der übrigen Zerstörung zu trotzen. Wie ein letztes Mahnmal, das an alte Zeiten erinnerte.
Das Dach war eingerissen. Auch die Balken hatten der Zerstörung Tribut zollen müssen. Sie waren aus ihrem ursprünglichen Verbund hervorgerissen worden und lagen zumeist auf dem Boden. Nur wenige von ihnen krallten sich noch in der Höhe aneinander fest.
Auch die noch stehenden oder liegenden Mauern zeigten die Spuren eines Brands. Sie sahen schwarz aus und schmierig, als wären sie mit Teer beschmiert worden. Fensteröffnungen wirkten wie kleine Höhleneingänge, und eine Tür suchte der Mann vergeblich.
Um die Kapelle herum lag nach Hansens Meinung eine bedrückende Stille. Er hatte die Stille oft erlebt, genossen oder auch abgelehnt. Hier aber war er der Meinung, daß es sich um eine besondere Stille handelte. Eine Stille, die wohl nie enden würde.
Nur die Geräusche waren zu hören, die er selbst verursachte, als er die Kapelle umrundete. Er ging langsam, sein Blick zielte forschend in verschiedene Richtungen. Hansen suchte nach irgendwelchen Spuren. Deshalb schaute er auch zu Boden, aber dort zeichnete sich nichts ab.
Hansen dachte an den Reiter.
Wenn er tatsächlich hier gewesen wäre, hätte er doch auf dem Lehm Abdrücke sehen müssen, doch er entdeckte weder Abdrücke noch irgendwelche anderen Hinweise auf einen Reiter, und auch die Luft sah normal aus. Kein Gespenst war zu sehen, kein kleines und erst recht kein großes. Hansen war allein.
Er schaute in die Höhe. Aus Erfahrung wußte er, daß sich in den alten Balken oft Vögel versteckten, weil sie dort zumeist ungestört ihre Nester bauen konnten. Doch hier gab es keine Vögel, es gab überhaupt keine Lebewesen, abgesehen von ihm selbst, der die Kapelle als Übernachtungsmöglichkeit nutzen wollte.
Eine Tür war nicht mehr vorhanden. Wo sie einmal gewesen war, gähnte nur ein Loch. Es hatte sich der Umgebung angepaßt, denn es war mit grauen Schatten gefüllt. Überall lagen Trümmer am Boden, und Hansen mußte seine Füße schon sehr anheben, um nicht zu stolpern. So betrat er die Kapelle, blieb stehen und schaute sich um.
Niemand hatte hier etwas weggeräumt, allerdings umgebaut, wie er sehr schnell erkennen konnte.
Seine Kollegen, die hier schon übernachtet hatten, waren nicht faul gewesen und hatten so etwas wie eine kleine Hütte aus den Dachlatten und Balken gebaut, in die der Schläfer hineinkriechen konnte und dort sogar vor Regen geschützt war.
Hoch am Himmel trieben die Wolken; sie vereinigten sich mit der Dämmerung. Sonnenstrahlen fielen nicht mehr in die zerstörte Kapelle hinein. Die Dunkelheit hatte alles im Griff.
Hansen hatte auch keine Ratten oder Mäuse entdeckt. Für sie gab es hier kaum Nahrung. Staub würden sie wohl nicht fressen, und Hansen konnte eigentlich zufrieden sein, denn er hatte schon schlechter übernachtet. Unter Steinen und einer dicken Staubschicht verborgen entdeckte er noch eine alte Kirchenbank, und überall dort, wo die Steine nicht zu dicht lagen, war Gras aus dem Boden gekrochen.
Den Rucksack hatte er vor seine neue »Wohnung« gelegt, kantete sich einen passenden Stein zurecht und nahm auf ihm Platz. Er diente ihm als Stuhl, denn der Mensch sollte es sich so bequem wie möglich machen. Dann öffnete er seinen Rucksack und schaute hinein, was an Eßbarem noch vorhanden war.
Er wußte es nicht genau, aber die italienische Dauerwurst war nicht zu übersehen. Zur Hälfte war sie noch vorhanden. Scharf gewürzt, mit Speckstücken im Innern, würde sie ihn nicht nur satt machen, sondern ihm auch die nötigen Kalorien liefern.
Er klappte sein Messer auf und schnitt einige Wurststücke zurecht, die in seinem Mund verschwanden. Er fand auch noch zwei Dosen mit Wasser. Das Zeug war natürlich warm, aber er trank es trotzdem, der Körper brauchte schließlich Flüssigkeit.
Keine Fremdgeräusche erreichten ihn. Hansen hockte als einsamer Pausengast in der zerstörten Kapelle. Er lauschte seinen Eßgeräuschen, nahm auch das Gluckern des Wasser wahr, wenn er
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