0921 - Die Trennung
sie gewähren.
»Haben Sie etwas mit dem Schatz im Keller zu tun, Monsieur Carax?«
»Er gehört ebenfalls mir.«
»Und wie haben Sie ihn da rein bekommen? Ich meine, ohne dass wir etwas davon gemerkt haben?«
Carax lachte, ohne das Knochengesicht zu verziehen. »Sagte ich nicht bereits, dass ich der größte Magier aller Zeiten bin? Wo sollte also das Problem sein? Hm. Sag mir eins, Frau: Welches Jahr schreiben wir?«
»2009.«
Er schien sinnend vor sich hin zu starren. »2009. Ja. 220 Jahre sind also vergangen. Ich habe auf meinem Weg hierher gesehen, dass sich vieles verändert hat. Sehr vieles. Ich muss lernen, mich an die neue Zeit zu gewöhnen. Satan wird mir dabei helfen. Sag mir, Frau, ob wieder der Adel regiert, oder ob die Bürger an der Macht geblieben sind.«
Maggie Tournier hatte längst begriffen, dass Carax in den Anfangswirren der französischen Revolution umgekommen sein musste. War er ein Adliger gewesen? Oder ein Bürger? Welche Antwort wollte er gerne von ihr hören? Sie entschied sich für die Wahrheit.
»Die Revolution war ein voller Erfolg. Die Adeligen sind nie mehr wieder an die Regierung gekommen.«
»Dann hat es Desmoulins, dieser Hund, also doch geschafft«, zischte Carax voller Hass. »Was ist mit ihm passiert?«
»Sie meinen Camille Desmoulins?«
»Ja, den meine ich.«
Maggie Tournier atmete durch. Jetzt konnte sie punkten, denn sie hatte sich ausgiebig mit der französischen Revolution beschäftigt.
»Camille Desmoulins hat es nur anfangs geschafft. Er wurde in den Nationalkonvent gewählt, zerstritt sich aber 1794 mit Robespierre und wurde auf der Guillotine hingerichtet. Genauso wie sein Freund Danton und seine Frau Lucile.«
»Hingerichtet von Robespierre? Das ist gut. Sehr gut.« Das rote Glosen in Carax’ Augenhöhlen leuchtete so grell auf, dass Maggie die Augen schließen musste. »Das verschafft mir eine gewisse Befriedigung. Was ist eine Guillotine?«
Sie erklärte es ihm.
»Musste Desmoulins mit ansehen, wie sie sein Weib einen Kopf kürzer gemacht haben?«
»Ja«, log Maggie schnell, denn Lucile Desmoulins war erst 14 Tage nach ihrem Mann hingerichtet worden.
»So ist…«
Schritte klapperten im Flur und näherten sich der Küche. »Mama, ich bin wieder da!«, rief eine fröhliche Kinderstimme.
»Oh mein Gott…« Maggie überlief es eiskalt. An Marc hatte sie gar nicht mehr gedacht. Doch bevor sie auch nur daran denken konnte, einen Warnschrei anzusetzen, spürte sie wieder die eklige Hand auf ihrem Mund.
»Keinen Laut. Oder ich drehe dir den Kopf nach hinten.«
Mit Bärengeheul stürmte Marc in die Küche. »Mam, schau mal, was…«
Abrupt unterbrach er sich und warf ungläubige Blicke auf den Zombie. »Wer ist der Mann, Mam? Und warum hat er so eine schreckliche Maske auf? Und es stinkt ganz schrecklich hier.«
Wieselflink huschte Carax zu dem Jungen hin und packte ihn am Arm.
»Au, Sie tun mir weh«, heulte Marc, wagte aber nicht, sich zu bewegen. Instinktiv ahnte er, dass hier gerade etwas ganz Furchtbares geschah.
»So, dann hätten wir schon mal einen Teil der Familie zusammen«, sagte Carax zufrieden. »Wer gehört denn noch dazu?«
»Nur noch mein Mann.«
Wieder leuchtete es in den Augenhöhlen. »Also gut. Aber wehe, wenn ich dich beim Lügen erwische. Dann könnte der kleinen Kröte hier schnell etwas passieren. Sehr schnell sogar.«
»Nein, bitte, Monsieur Carax, ich sage die Wahrheit.«
»Wo ist dein Mann?«
»Beim Arbeiten. Er kommt erst heute Abend zurück.«
»Wir werden so lange auf ihn warten«, entschied Jaques Carax.
***
Paris, Montmartre, Nicoles Wohnung
Nicole hatte die ganze Nacht durchgetanzt. Meistens alleine, denn die Typen, die versucht hatten, bei ihr zu landen, besaßen nicht mal annähernd Zamorras Format und hatten einen Gähnreiz nach dem anderen bei ihr ausgelöst. Wenn sie jetzt, kurz nach dem Erwachen, daran dachte, fühlte sie nichts als Hohn und Verachtung für die Kerle. Trotzdem war es ein geiler Abend gewesen. Warum sah sie dann aber in eine große Leere, wenn sie daran dachte? Eigentlich wollte sie gemütlich liegen bleiben und etwas Musik hören. Eine innere Unruhe, die sie sich nicht erklären konnte, trieb sie schließlich aus dem Bett.
Kurz vor Mittag stand sie auf, duschte und machte sich dann einen Kaffee. Dabei sah sie zum Fenster hinaus, direkt auf den Place du Tertre, dem Herz Montmartres, der von quirligem Leben erfüllt war. Ihre Blicke schweiften über die zahlreichen Maler und
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