0921 - Totengrinsen
ausstiegen, öffnete sich die große, braune Eingangstür, die den Abschluß einer Nische bildete. Ein Mann im weißen Kittel erschien. Seine Haare waren ziemlich lang, dünn, grauweiß und hingen strähnig in den Nacken. Der Mann war klein, hatte ein rundes Gesicht mit Apfelwangen und eine knubbelige Nase. Seine randlose Brille mit den runden Gläsern fiel kaum auf. Er streckte uns seine rechte Hand entgegen und begrüßte zunächst Jane Collins. »Mein Name ist Liebling. Justus Liebling. Ich leite die Klinik hier. Vertretungsweise, denn der Chef ist in Urlaub.«
»Wie schön für ihn«, sagte ich. Dann bekam Liebling unsere Namen zu hören und seufzte.
»Ja, ja, sie klingen so normal, im Gegensatz zu meinem.«
»Jedenfalls sind sie einmalig«, sagte ich.
Er hob die Schultern. »Über den Namen hat man schon in meiner Heimat gelacht und gelästert. Ich kam vor fünf Jahren zu einem Kongreß her und bin hier hängengeblieben. Aber kommen Sie doch rein. Auch wenn es nicht so aussieht, aber einen Vorteil gibt es schon. In diesem alten Bau ist es kühl.«
Ich nickte und schaute mich rasch um.
Links ging es zur Küche, daneben führte ein Gang zu den Büros. Rechts lagen die Zimmer der Patienten, und eine breite Holztreppe führte in die oberen Etagen.
»Ich darf dann mal vorgehen«, sagte Liebling und eilte auf seinen kurzen Beinen durch den Bürogang. Deckenlampen spendeten Licht. Wir erreichten das Büro, in das uns Dr. Liebling hineinbat.
Auch in diesem Raum war es angenehm kühl. Ein Vorzimmer hatten wir nicht zu durchqueren brauchen, und wir nahmen auf Stühlen Platz, die alt waren. Der Lederbezug zeigte bereits Risse.
Durch das große Fenster fielen unsere Blicke in den Park, wo das dichte Laub der Bäume eine düstere Welt bildete.
Wasserflaschen und Gläser standen bereit, worüber wir froh waren. Auch der Arzt trank einen Schluck und streckte danach seine kurzen Beine aus. »Ich habe ja erfahren, um was es geht. Sie wollen sich Nathan ansehen.«
Wir nickten.
Dr. Lieblings Gesicht verdüsterte sich. »Ausgerechnet unseren schlimmsten Fall.«
»Können Sie das erläutern?« fragte Jane.
»Gern. Dieser Fall ist insofern schlimm und ungewöhnlich, als daß der Patient nichts tut.«
»Wie?«
»Er will seine Zelle nicht verlassen. Er will nicht in den Park, und es hat für alle, die mit ihm zu tun haben, den Anschein, als würde er sich in seinen vier Wänden wohl fühlen.«
»Bekam er nie Besuch?« fragte Suko.
»Nein.«
»Und er heißt nur Nathan, oder gibt es da noch einen Nachnamen?«
Dr. Liebling starrte ins Leere. »Wenn ich das wüßte, wäre mir wohler. Aber es ist nicht unsere Aufgabe gewesen, dies herauszufinden. Es war der Job der Leute, die ihn damals verhaftet haben. Wir kennen ihn nur als Nathan, den Schlächter.«
Jane wiederholte fragend das letzte Wort.
Dr. Liebling schüttelte den Kopf. »Es ist nicht auf meinem Mist gewachsen. So haben ihn die Zeitungsschmierer genannt, als der Prozeß damals lief. Der hat auch nie Angaben zu seiner Person gemacht. Er ist ein Mensch, der in der Luft schwebt. Ein Mensch ohne Vergangenheit, ohne Abstammung. Er ist einfach da, und das ist vom Gericht akzeptiert worden. Wahrscheinlich war man froh, sich mit ihm nicht länger auseinandersetzen zu müssen und ihn zu uns abschieben zu können.«
Ich übernahm das Wort. »Sie haben nie Ärger mit ihm gehabt, sagten Sie?«
»So ist es.«
»Wie schätzen Sie ihn denn ein?«
Der Arzt legten den Kopf schief und zeigte ein nicht eben optimistisches Lächeln. »Ich kann es nicht sagen, da bin ich ehrlich. Ich stehe bei ihm vor einem Rätsel. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Ich kann ihn nicht mal einschätzen.«
»Sie haben doch sicherlich Gespräche mit ihm geführt.«
Der Mann winkte ab. »Ich habe es versucht, aber es hat nichts gebracht. Nathan sagte nichts. Er hat mich nur angeschaut, und ich will Ihnen sagen, daß es mir verdammt unangenehm war, in dieses Gesicht zu glotzen, das stets zu einem widerlichen Grinsen verzogen war, so wie ich es noch nie erlebt habe. Ich bin da einfach nicht mit ihm zurechtgekommen. Das Grinsen kann ich auch nicht beschreiben. Ich weiß nicht, ob es nun überheblich gewesen ist, wissend oder triumphierend, ich kann mich auf keine Beschreibung einigen.«
»Er war also einmalig«, sagte Jane.
»So ist es.«
»Was war mit seinen Augen?«
Dr. Liebling hob die Schultern. »Das ist auch so ein Problem«, gab er zu. »Ich sah die Augen einfach als schrecklich
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